20
Dez
2011

Vom Christbaum

Ich hatte vier Winter erlebt, bevor ich in die Baumschule kam. Von Anfang an hatte ich meinen fixen Platz in einer Reihe mit den anderen Tannen. Jeder von uns Nordmännern hatte genügend Raum, sich auszubreiten. Schafe grasten im Sommer zwischen uns, Schmetterlinge umtanzen unsere Wipfel und nachts erzählte uns unsere Lehrerin, die alte Eule, von unserer Bestimmung. Sicher wir würden nie so groß und mächtig werden wie unsere Artgenossen in freier Wildbahn, auch nicht so alt. Aber wir würden für das Fest der Liebe sterben; im Lichterglanz, feierlich geschmückt und erst später den Feuertod erleiden. Nie würde ein Specht sein Nest in uns hacken oder ein Marder seine Höhle in unseren Wurzeln bauen, keine Eichkätzchen würden unsere Zapfen abnagen. Wir würden von Parasiten verschont bleiben, von Waldbränden und der Sägemaschine.

Wir müssten nur gerade wachsen, erklärte uns die Eule, unsere Lehrerin, dem Mond entgegen und unsere Ästen rundum weit ausbreiten. Und wenn der Schnee schwer auf unseren Nadeln lastete, versprach uns die Eule, unsere Lehrerin, dass wir bald viel süßere Last tragen dürften: Bunte Kugeln und schillernde Vögel mit zarten Federn, Süßigkeiten und liebevoll gebastelte Strohsterne, da oder dort silbernen, blauen, roten Lametta – das sei wie Eiszapfen, glitzernd, nur federleicht, erzählte die Eule, unsere Lehrerin Sie beobachtete die Menschen durch ihre Fenster und hatte schon viele, viele Weihnachten gesehen. Er liebte es, ihren Geschichten - vorgetragen mit eindringlicher Stimme - zu lauschen. Und Kinderlachen versprach sie und glänzende Augen.

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Kinderlachen kannte er, denn oft tollten die Kinder der Bäuerin durch die Baumreihen, spielten Fangen und rissen sogar manchmal an den Ästen. Und auch glänzende Augen hatte er schon gesehen - bei dem Menschenpaar, das Hand in Hand durch die Baumschule spaziert war. Ob es das war, was die Lehrerin, die Eule, meinte, das Kinderlachen, die glänzenden Augen? Der Mond wurde ein paar Mal voll und leer, ein letzter Sommer ging vorüber, ein Kinosommer anderswo, ein Sommer voller Weihnachtsträume in der Christbaumakademie.

Es wurde Herbst und Laub verfing sich zu seinen Füßen. Mäuse und Hamster rannten mit ihren Vorräten durch die Reihen, der Wind zauste die stolz gespreizten Äste und nachts wehten Nebel. „Wie Engelshaar“, eulte die Eule, die weise Lehrerin: „Manchmal hängen sie auch Engelshaar in Eure Zweige und allerlei bunte Figuren, die glänzen im Kerzenlicht. Und dann zünden sie Sternspritzer an, das ist wie der Himmel mit all den Sternen und Schnuppen, nur viel, viel mehr.“ Er freute sich auf Weihnachten.

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Und doch war es ein schrecklicher Tag, als er gefällt wurde, seine Wurzeln verlor und gut verpackt zu seinen Kameraden, den anderen schönen Nordmännern, gelegt wurde. Und dann setzten sie sich in Bewegung, sie rieben sich aneinander, ächzten und stöhnten. Davon hatte ihre Lehrerin, die weise Eule, nichts erzählt. Er hatte sich nicht verabschieden können. Wie seltsam sich die Erde bewegte, an ihm vorbeizog, ein Christbaum unterwegs in Richtung Weihnachten.

Die Kinder hatten ihn ausgepackt, hatten seine Äste aufgerichtet, unterstützt von der Mutter, rotbäckig alle vier. Er stand auf einem großen Platz, mit anderen auf langen Stangen im Boden verankert. Das Licht war schön, Lichterglanz. Ob es das schon Weihnachten war, überlegte er, die Kinder lachten und die vorübergehenden Menschen bekamen immer glänzendere Augen. Es roch gut, doch manchmal bekam er ein paar Spritzer heiße, klebrige Flüssigkeit ab. Es roch gut. Trotzdem. Die Eule, seine alte Lehrerin, hatte mehr versprochen. Sie würden sich um ihn scharen, und das war wohl noch nicht scharen.

Ein großer Baum stand auch da, mächtig mit feuerlosen Kerzen geschmückt. Manchmal machte auch einer von ihnen, der nie die Baumschule besucht hatte, Karriere und landete in einer großen Stadt, als Superchristbaum am Weihnachtsmarkt, hatte die Eule, seine Lehrerin, nur einmal erwähnt. Er seufzte. Diese Karriere würde er wohl nie machen, aber bunte Kugeln und Lametta und glänzende Augen und Lachen und Sternspritzer und Süßigkeiten und Fest der Liebe…Voll Sehnsucht dachte er an die Eule, seine Lehrerin, und vermisste den eulenden SingSang ihrer Erzählungen.

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Da scharten sie sich plötzlich, nicht rasend viele Menschen, sechs davon, Männchen und Weibchen, auch das hatte ihnen die Eule, die kluge Lehrerin, erklärt, dass es Männchen gibt mit einem weiteren Ast und Weibchen, die zwei Eier vor sich hertragen. Und dass sie lange balzten, im Wald spazieren gingen und schnäbelten und sich dann balgten. Die Eule wusste alles von den Menschen. Auch dass sie ungeschickterweise keine Eier legten und ausbrüteten, um sich fortzupflanzen. Was wohl Tannen machten? Er hätte gerne gefragt und hat es nie.

Sie scharten sich um ihn, schwankend, aber musste man nicht schwanken, wenn man keine Wurzeln hat, tief in der Schulerde oder keine Flügel und Krallen, sich an den dürren Ästen festzuhalten? Hier schwankten viele, die meisten. Sie lobten sein Aussehen, lachten wie die Kinder und die Kinder, die kleinen Menschen, holten die Mutter. Sie gaben ihr Blätter und er wurde in ein enges Netz verpackt. Und Einer, ein Großer mit einem lustigen Wipfelschutz, legte ihn sich über die Schulter.“Ich trag ihn heim“, sagte er. Da gingen sie hin, schnell erhaschte er noch einen Blick auf den Platz und seine Nordmannkameraden.

Jetzt war er allein unter Menschen. Seine Äste schmerzten und sie bugsierten ihn in ein langes, sich bewegendes Etwas. Das Männchen hatte seinen Arm um ihn gelegt, das Weibchen bewunderte ihn immer wieder und freute sich an ihm. Ihre Stimme hatte etwas Euliges.

Das musste wohl die Stadt sein. Sie waren lange unterwegs gewesen, hatten einmal das Transportmittel gewechselt. Er sah kaum andere Tannen, fast gar keine, überhaupt wenig grün. Sie waren in einer engen Höhle, es blitzte, war aber kein Gewitter. Waren das Sternspritzer? Irgendwann ruhten sie zu dritt im Grünen, laute stinkende Tiere fuhren vorbei. Autos hatte sie die Eule genannt und erklärt, dass sie gefährlich für Tiere sind, aber dass Bäume gefährlich für Autos sind. Da hatte er sich stark gefühlt. Der Mann – das war wohl der Mann - zündete ein Feuer in seinem Mund an.

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Sie wankten – keine Wurzeln, schon schwierig - zu dritt einen seltsamen Weg entlang mit einer Art riesiger Bauernhöfe links und rechts, ganz eng aneinander gedrängt und Autos und vielen Menschen, die sich nach ihnen umdrehten, manche lächelten – wie Kiesel im Mondlicht im Mund der Menschen, hatte die Lehrerin, Frau Eule, erläutert. Später dann lehnte er an einem Fels, es war rauchig und rundherum Lichterglanz, es wurde gelacht und „seine Menschen“ – er durfte sie wohl so nennen - redeten von Weihnachten. Ihm war warm und er dachte an die Eule, seine geliebte Lehrerin. Dann gingen sie, oder was die Wurzellosen darunter verstanden, und bestiegen einen Berg. Irgendwann spürte er, er war angekommen, ganz oben, in der Großstadt, in seinem Alter schon ein Superchristbaum?

Und dessen war er sich ganz sicher, als bald darauf die zwei Weibchen mit ihren Eiern unter dem Wipfel, ihn umtanzten und schmückten. Sie tranken und prosteten ihm zu. Alles war so gekommen, wie die Eule, seine Lehrerin, versprochen hat. Er hörte sie vorsichtig besprechen, was wohl zuerst seine Äste schmücken sollte, Kerzen oder Süßwaren. Kugeln oder Vögel? Und sie gaben ihm Halt zwar mit Schrauben verankert, aber genährt und sicher. Er hätte ein eigenes Zimmer, scherzten sie, sein eigenes Zimmer. Und an seinen Ästen hing eine Eule, seine Eule, weise und alt, silbern glänzend wie im ewigen Eis. Der Mann hatte sie dort hingehängt.

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Am nächsten Abend tanzten sie um ihn, seine Kerzen wurden angezündet, Gläser klirrten, Pakete lagen zu seinen Füßen, Sternspritzer sprühten, wie Sterne nur viel, viel mehr. Er war der Mittelpunkt, Glocken klangen und alle freuten sich mit, an ihm. Kaum jemand wagte von seinen Ästen zu naschen. Alles war wahr geworden Kinderlachen – es musste sich um eine ziemlich groß gewachsene Sorte Kinder handeln, kaum von Menschen zu unterscheiden – und glänzende Augen. Und die Eulengottheit bei ihm.

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Irgendwann einmal würde er wohl den Feuertod sterben, auch das hatte die Eule prophezeit. Manche ereilte der schon am ersten Abend, andere, gefällt beim richtigen Mond wie er selbst, müssten die heimeligen Stuben erst verlassen, wenn sie zu viel Nadeln verlieren würden. Und so riss er sich zusammen, um zu eben jenen zu gehören und schwelgte in den einsamen Stunden in seinem Zimmer von seinen Erinnerungen an Weihnachten, dem Fest auf dem er ganz im Mittelpunkt stand.

Und dann wurde es noch einmal aufregend, der Mann schnürte wieder Päckchen zu seinen Füßen, die Frau huschte durchs Zimmer, Gegenstände verschoben, ein Lager bereitet. Der Mann schmückte ihn noch einmal mit Kerzen, Musik ertönte und Sternspritzer taten ihr Wunderwerk. Und die Augen glänzten, sie schnäbelten, hätte seine Lehrerin, die kluge Eule dazu gesagt. Sie packten das eben Verpackte wieder aus und sprachen von Freude und Liebe, immer wieder von Liebe. Das Fest der Liebe hatte die alte Eule, seine Lehrerin, es benannt. „Mein erster Baum“, sagte er. „Mein Weihnachten“, sagte sie. Und Liebe.

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Dem kleinen Christbaum kam es vor, als würden die ganze Nacht die Sterne sprühen und er vermisste seine Wurzeln gar nicht mehr. „Es muss eine Vollmondnacht sein, so wie die Tiere des Waldes singen“, sagte er zur Eulengöttin auf seinem Ast: „Und Weihnachten.“ Nie hatte er es gewagt mit der Eule, seiner weisen Lehrerin zu sprechen, nie zuvor. Sie lächelte ihm zu und ihre Augen glänzten.

„Unser Baum“, sagte der Mann: „Und vielleicht kommt er später zu den Elefanten nach Schönbrunn…“. „Unser Baum“, antwortete die Frau: „Sicher kommt er das…“

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Das Fest der Liebe, Eule…und er war ein Superchristbaum.

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