5
Aug
2010

Ehrenwerte Besucherinnen, geschätzte Besucher,

Jetzt spielt's Granada:



In spätestens 12 Stunden wird mir so manches spanisch vorkommen - ich verabschiede mich in Richtung Siesta,

stets Ihre Mock Turtle

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989 mal erzählt

Mutter:Liebe

„Und dann hat mich deine Mama rausgeworfen.“ Sie war die beste Freundin der ersten zehn Lebensjahre. Wir waren unzertrennlich und haben uns geliebt, zwei kleine Mädchen, die zusammen spielten, Geheimnisse teilten, ja sogar gemeinsam auf dem Klo saßen. Jetzt ist sie eine schöne Frau, hat selbst drei Kinder, die mich begrüßen, als wäre ich ihnen schon längst vertraut. Sie wissen, dass ich eine Bücherratte war und dass mir ihre Mutter von meiner Mutter immer als leuchtendes Vorbild hingestellt wurde, weil sie so sauber war und ordentlich, nicht verträumt, wild, chaotisch, mit stets schmutzigen Fingern wie ich. Das mit dem Rauswurf wissen sie hoffentlich nicht. Ich wusste es nicht – all die Jahre, die ich die Vertraute so vermisst habe, all die Jahre bis sie mich wiedergefunden hat. Ich schaue sie mit großen Augen an, wir sitzen uns gegenüber im Fischrestaurant. Eigentlich wollte die Mutter mitgehen an diesem Abend, aber dann war sie doch zu müde und ließ mich mit der Freundin alleine ziehen.

Sie brauche nicht mehr zu kommen und anzurufen auch nicht, habe sie der Zehnjährigen erklärt. Die kleine Turtle ginge jetzt aufs Gymnasium und habe andere Freundinnen, besser passende. „Und das war nicht der erste Rauswurf, aber an den habe ich mich gehalten“, sagt die Freundin, deren Hand ich drücke. Wir weinen. Ich bin fassungslos. Ich schäme mich, für meine Mutter und auch ein wenig für mich, weil ich nicht um diese Freundschaft gekämpft habe, weil ich nicht weiter den Kontakt gesucht habe. Ich versuche mich zu erinnern, wie es war die Freundin zu verlieren.

In der Arbeitersiedlung nebenan habe ich als Kind viele schöne Stunden verbracht, wohl ein paar der schönsten. Ich fühlte mich wohl in den kleinen Wohnungen mit den Kohleöfen und den Klappbetten, mit Zeichen des erarbeiteten Wohlstands der späten Sechziger Jahre: Großen Puppen in gehäkelten Kleidern, venezianischen Gondeln, Souvenir vom Jesolo-Urlaub, aus Bibione, vom Brennermarkt. Kelomats und Fädenlampen. Ich habe als Kind dort Kekse gebacken mit Kochmütze und Schürze. Ich mochte das Leben und die Menschen in diesen Wohnungen, Männer, die mit flüssigem Eisen an Hochöfen arbeiten, weiche Frauen in Kittelschürzen. Ich mochte es durch Stiegenhäuser zu tollen und sich an den Knien von Teppichstangen hängen zu lassen. Ich war dort glücklich, vielleicht sogar glücklicher als im Haus nebenan. Dann zog die Freundin weg in eine andere, neue Siedlung in den neuen Ortsteil. Auch dort besuchte ich sie gerne, ihre Mutter briet uns „Arme Ritter“, wir hörten Schallplatten wie „Ein Abend auf der Heidi“ und kicherten. Und irgendwann war das nicht mehr.

In dem Fotoalbum, das ich mitgebracht hatte, um ihren Kindern Bilder aus der gemeinsamen Zeit zu zeigen, rutschen Fotos der anderen Freundin, der besser passenden, Anwaltstochter wie ich. Viel Bemühen steckte in dieser Freundschaft, wirklich innig wurde sie nie und es blieb schwierig mit den Mädchenfreundschaften. Die beste Freundin ein Laben lang hätte ich mir manchmal gewünscht. Mit der anderen Anwaltstochter bin ich auf Facebook befreundet. Kein weiterer Kontakt. Und noch eine Freundin war da in den Jugendjahren. Hallerin wie die Mutter und von dieser zwischen geduldet und vereinnahmt. Weit weg, so oder so. Unachtsam habe ich viel Menschen verloren.

Auch die vielen Freunde der Eltern fallen mir ein, die eine Zeit lang mein Leben intensiv begleitet haben und dann verschwunden sind. Weil sie dem strengen Urteil der mutter nicht mehr genehm waren? Nicht passend? Ich fühle mich bestohlen. Und auch da das alte Gefühl von Scham. Und Vermissen. Und Sehnsucht. Und Haß.

Spät nachts ruft die Mutter am Handy an, weil ich noch immer nicht zu Hause bin. Sie meldet sich nicht. Der stumme Anruf ist ihr Zeichen genug. Ist auch mir Zeichen genug. Ich dränge die Freundin zum Aufbruch. Wir trinken aus. Ich versuche ungeschickt die Mutter zu entschuldigen. Ich weiß schon jetzt, dass ich sie nicht zur Rede stellen werde. Ich versuche auch das zu erklären, zu entschuldigen. Die Freundin versteht es. Sie versteht alles, ist einfach wieder da und in ihren Augen komme ich heim.

Ich stelle sie nicht zu Rede. Weil es keinen Sinn hätte. Weil sie wahrscheinlich lügen würde, oder sich nicht erinnern könnte. Weil es bloß die wiedergefundene Freundschaft gefährden würde, Treffen mit der Freundin bei zukünftigen Heimatbesuchen erschweren würde, weil ich Angst habe, Angst vor ihr, vor ihrem Haß, den Worten, der Bosheit, den Nadelstichen, vor ihrem Tod, vor ihrem Schmerz, vor meinem Zorn. Weil ich sie liebe, schmerzhaft, qualvoll liebe, wie sie mir von klein auf geboten hat, sie zu lieben.
Weil sie meine Mutter ist.

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27
Jul
2010

Gefunden

"Ich habe einen kleinen Schlüssel von dir gefunden", grinst der Erstgeborene: "Zuerst dachte ich, der wär vielleicht zu deinem Tagebuch - aber das steht ja im Internet."

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1215 mal erzählt

25
Jul
2010

Adieu, Herr Walter

„Wenn so was passiert, dann immer im vierten Stock“, meinen die Feuerwehr- und Rettungsmänner als sie bei uns oben ankommen. Wir lachen, der Gatte, die ehemalige Fahrschulbesitzerin und ihr Enkerl Maurice. Sieben, acht Jahre ist er, ein hübsches Lausbubengesicht, eine zu große Uhr am Handgelenk, Brasiliendress. Vor einer Stunde sind stand er mit ebenso neugierigen Augen hinter der Großmutter, die bei uns angeläutet hatte. Man kennt sich schon lange, vom Verschnaufen beim Stiegen steigen, Eier ausleihen, auf die Hausverwaltung schimpfen und lachen und auch weinen schon. Ich war gerade beim Frühstück machen, Brot schneiden, musste mir schnell ein Kleid überwerfen, den Gatten warnen, der im Bett mit angerichtetem Brunch wartete. Lazy Sunday eben, nicht easy, auch ein paar Tränen, wie’s halt so ist manchmal an einem regnerischen Sonntagmorgen.

Und da waren die Beiden. Die Frau mit dem schönen Namen entschuldigte sich: „Ich hab den Walter schon eine Woche nicht gesehen.“ „Die ganze Woche“ hält sie in Händen und ein Bezirksblatt. Beweisstücke, die sie ihm mittwochs vor die Tür gelegt hatte. Und dass er sie immer anrufe, wenn er am Licht erkenne, dass sie – einen Stock unter ihm – auf der Toilette wäre. Den Hof habe er ihr gemacht, lässt sie durchscheinen. Schon früher hatte er bei ihr übernachtet, wenn ihn Püppi vor die Türe gesetzt hatte. Und angerufen habe sie auch regelmäßig und ihm gesagt, dass er anrufen soll, falls er ins Burgenland fährt.

Das Licht brennt hinter der Türe. Als ich am Mittwoch spät heimgekommen bin, hab ich es brennen gesehen. „Der W ist noch wach“, hab ich zum Gatten gesagt. Wird wohl saufen, hat er geantwortet. Seit Püppis Tod haben wir ihn nicht mehr nüchtern gesehen. Unsere Essenslieferungen haben wir eingestellt, weil er sich jedes Mal bemüßigt fühlte, sie mit einer Flasche Wein zu bezahlen. „Den soll er selbst trinken“, haben wir uns gesagt: „Er kann ihn brauchen.“ Auch das Fenster stand seit Tagen offen. Wir klopften und klingelten noch einmal, der Gatte und ich. Dann hab ich die Polizei angerufen. „Der Trottel, wenn der jetzt nur besoffen in der Gegend herum liegt“, sagte die Fahrschulbesitzerin. Wir sahen uns in die Augen. Wahrscheinlich glaubte das nicht einmal Maurice.

„Überall steht Wien drauf“, bemerkt der Bub angesichts der acht Uniformierten die sich an der Türe des Nachbarn zu schaffen machen. Als allererstes haben sie das Aquarium weggeräumt, den obskuren Türschmuck der Ws. Ich fühle mich bemüßigt dem Kind etwas über Berufsrettung und -feuerwehr zu erklären, um es, mich abzulenken vondem hinter dieser Türe. „Lebte er allein?“ will der hübsche Rettungsmann wissen. „Die Frau ist vor sechs Wochen gestorben“, antworte ich. „Vielleicht hat er sich erhängt“, mutmaßt der Retter mit illustrierender Geste: „Dann müssen wir ihn runter schneiden.“ Barfuß am Gang frage ich mich, ob er mit mir flirtet.

Ein dicker Polizist kommt nun die Treppen herauf geschnauft. „Immer im vierten Stock“, keucht er oben angekommen. Die anderen lachen. Wir auch. „Dabei müssen wir des täglich gehen“, sagt die Fahrschulbesitzerin. Maurice schaut. Die Türe ist noch immer nicht offen, als eine Polizistin folgt. „Immer im vierten Stock passiert so was.“ Alle lachen und ich frage mich, was so was ist, sein könnte. Den Revolver hätten wir wohl gehört. „Das müsste er hören“, sagt die Nachbarin aus dem dritten Stock, als der Türstock kracht. Ich nicke. „War‘s doch gut“, dass Sie angerufen haben“, ergänzt sie. Angst und Trauer liegen in der Luft. Das Kind beobachtet. Ob er einen Hund hatte, will einer wissen. „Der hätt sich schon längst gerührt“, erklärt die Polizistin. Als die Türe offen ist, lässt sie sich von ihrem Kollegen Tigerbalsam geben und streicht ihn unter die Nase. „Schaut‘s auch im Bad, sagt die Fahrschulbesitzerin: „Da hat er jetzt geschlafen.“ „Wir schauen überall“, antwortet ihr ein Feuerwehrmann, der neben der Bassena lehnen bleibt.

Im Bad haben sie ihn gefunden. Kein schöner Anblick, sagt die Polizistin, als sie meine Personalien aufnimmt. Im Rausch verstorben wahrscheinlich. Ich will nicht fragen, keine Einzelheiten. Die Frau mit dem schönen Namen und ihr Enkerl gehen wieder nach unten. Ich brauch kein Frühstück mehr. Ich werde heute noch auf Herrn Walter trinken. Sein Lächeln wird mir fehlen und sein „Gnädige Frau.“ Die Scherze, die er mir hinter vorgehaltener rechter Hand erzählt hat in der Linken die braune Aktentasche, deren Inhalt mir für immer ein Rätsel bleiben wird. Bald wird sein Auto weg sein, das Aquarium, der Holzblumenstrauß, der Tischkalender, die Bärchen, die Mickeymouse-Ohren..

Ich bin nie dazu gekommen, ihn zu fragen, wo seine Püppi begraben ist. Dort wird wohl er auch liegen. Vielleicht frage ich die ehemalige Fahrschulbesitzerin mit dem schönen Namen. Vielleicht. Jetzt trink ich ein Glas Wein, auf den Herrn Walter und seine Püppi, Nachbarn im vierten Stock

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1264 mal erzählt

23
Jul
2010

Zu Kreuze kriechen

Da kehre ich nun also zurück in den Schoß der Mutter Kirche. Vor mehr als zehn Jahren bin ich ausgetreten, Anlass war dafür keiner mehr nötig, Gründe gab es mehr als genug. Eher war es vielleicht verwunderlich, warum ich so lange bei diesem Verein geblieben war. Der Glaube war mir schon 20 Jahre vorher abhanden gekommen.

Dabei wäre die kleine Turtle ein dankbares Schäfchen gewesen. Die halbjüdische Großmutter hatte mich das Beten gelehrt, die Bibel las ich mit Begeisterung und in den masochistisch angehauchten Fantasien meiner Kindheit erschien mir Märtyrerin ein erstrebenswertes Berufsziel. Ja, das konnte ich mir gut vorstellen: Für meinen Glauben leiden, für meinen Glauben sterben. Der Herr Pfarrer, ein hagerer, verbissener Mann, der für den Religionsunterricht in der Volksschule zuständig war, verstärkte meine SchuldundSühneLeidensGlaubensannäherung noch durch Schreckensvisionen vom Fegefeuer und strenge Strafen wie Eckenstehen, Schranzhocke und Scheitelknien. Selten musste ein Mädchen so Buße tun,die kleine Turtle hat es geschafft. Was sie nicht geschafft hat, war Ministrantin zu werden, das blieb ihr damals Anfangs der 1970er in Tirol versagt. Der Kirche nahm sie das ein wenig übel und bewegte sich den ersten Schritt weg vom Glauben.

Mit dem Gymnasium, Bergen von Büchern und der Pubertät folgten weitere Schritte, jeder schneller und größer als der vorige und irgendwann zwischen Böll und Sartre hörte die Turtle auf, an Gott zu glauben. Den Religionsunterricht beim kleinen Prof im weißen Mäntelchen, das sonst nur den Biologie, Physik und Chemie unterrichtenden Kollegen vorbehalten war, besuchte ich weiter. Dort lernten wir vor allem über den Kirchenausbau samt Lichtorgel unseres Professors und über die Höhlen von Qumran. Um den Lageort letzterer zu illustrieren mussten immer wieder Landkarten aus dem Geographiekammerl geholt werden. Stets wurde ein Bub dafür ausgewählt den kleinen nach viel zu viel Rasierwasser duftenden Mann im weißen Mäntelchen zu begleiten. Jahre später hörte ich, die Buben, die Ministranten und das Kammerl seien ihm zum Verhängnis geworden. Es überraschte mich kaum.

Während der Studienjahre übernahmen die Eltern die Kirchensteuer, damit ich ein christliches Begräbnis bekäme, erklärte die Mutter. Der Vater sagte nichts und zahlte. Erst jetzt nach seinem Tod erkenne ich langsam, dass er wohl sein sehr gläubiger Mensch gewesen ist. Auf unseren Reisen und Ausflügen konnte er an keiner Kirche vorbeigehen, ohne sie zu betreten, eine Kerze anzuzünden und sich auf ein paar Minuten in die hölzernen Sitzreihen zu quetschen – versunken sah er aus, wohl in ein Gebet. Ich sehe ihn auch einen Laib Brot anschneiden und vorher mit dem Messer das Kreuzzeichen an die Unterseite malen und ich spüre noch immer jenes Kreuz, das er mir so oft mit dem Daumen zärtlich zum Abschied auf die Stirn gemalt hat. Unser letzter gemeinsamer Spaziergang durch das fremd gewordene Heimatdorf führte uns erstmals gemeinsam – bei meiner Erstkommunion war er wie oft verhindert - in die Dorfkirche und schließlich auch zum Kugeltoni, einem Bild des heiligen Antonius, 1809 durchlöchert von den Kugeln der Franzosen, in einer kleinen Kapelle.

Mir aber blieben Gott und Kirche fern. Geheiratet haben wir dann aber doch auch kirchlich. „Die haben Jahrhunderte Erfahrung und bieten daher die beste Show“, rechtfertigte ich die Inkonsequenz – und erst das Hohe Lied der Liebe. Getraut hat uns ein lebenslustiger Abt, der vor Eintritt ins Kloster als der schnellste Saustecher Niederösterreichs war und uns zum Eheunterricht ein feines Weinchen kredenzte.Fünf Jahre später bin ich dann endlich ausgetreten. Ohne Anlass, mit vielen Gründen.

Und doch, auch wenn mir Gott und Kirche fern sind, habe ich dem Neffen letztes Jahr gar eine Bibel weil er sich für Gott interessiert und weil ich das Buch mag und es untrennbar mit unserer Kultur verbunden ist. Ich hab gefragt vorher, ob ich das darf. Und ich hab nachgeschaut nachher, er hat darin gelesen, ein wenig zumindest.

Und jetzt Mimi und die große Ehre ihre Taufpatin sein zu dürfen, als Ausgetretene geht das aber nicht und im heil’gen Land schon gar nicht. Und so beschloss ich das Comeback. Mit offenen Armen wurde ich aufgenommen im Haus gegenüber von einem Priester, der dieselbe Hautfarbe hat wie mein Patenkind. Morgens wenn ich meditiere schau ich immer auf das Kirchendach. „Glaube, Hoffnung und Liebe“ hat Schubert zur Glockenweihe dieser Kirche geschrieben. Der schwarze Pfarrer hat eine kleine Zeremonie mit mir abgehalten, zwei Pfarrsekretärinnen standen mir als Zeuginnen zur Seite – in meinem Freundeskreis hätte ich niemanden gefunden, der noch dabei ist.

Zu viert standen wir in der Antoniuskapelle und das half ein wenig. Beim Glaubensbekenntnis stieg aber der alte Widerspruch in mir auf, vor langer Zeit hatte ich aufgehört es bei den seltenen Gottesdiensten mitzumurmeln, jetzt musste ich laut und deutlich vom Blatt lesen. Und so log ich, log für Mimi, log beim Vater Unser und bei der Kommunion. Und ließ mich doch ein wenig von der Vetrautheit der Worte auffangen – wie auch wir vergeben unsern Schuldi gern. Geld wollten sie keines, ich hab gespendet und im Kreuzgang mit Fürbitten-Tafeln noch eine Kerze für Papa angezündet. Über mir hängt Jesus: Gloria.

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1525 mal erzählt

12
Jul
2010

Wiedersehen

Er war die erste große Liebe der kleinen Turtle, ihre Kinderliebe. Der hübscheste Bub in der ganzen Volksschulklasse, groß mit dunklen Haaren, braunen Augen und einem strahlenden Lächeln. „Haifischflossensuppe“ nannte er als seine Lieblingsspeise, als in der Schule danach gefragt wurde, „Weinbergschnecken“ waren es bei der kleinen Turtle – dermaßen kuriose und zugegeben kapriziöse Leibspeisen in der ländlichen Schule, wo alle anderen von Schnitzel, Palatschinken, Spaghetti und Pommes Frites träumen, verbanden.

Er ist doch tatsächlich Koch geworden, der kleine Junge mit Appetit auf Haifischflossensuppe. Und gar kein schlechter, wie mir das Internet - kurz nachdem er mich vor zwei Jahren dort wieder gefunden hat – mitteilt. Er hat sich durch die Welt gekocht von Absam nach Frankreich und über New York schließlich nach Lateinamerika. Manchmal unterhalten wir uns auf Skype. Er gibt mir Kochtipps.

Die kleine Turtle träumte keine Vater-Mutter-Kind-Träume, sie spielte nicht mit Puppen, sie war ein wildes Mädchen und verlieh ihrer Sehnsucht in Raufereien und Schlachten im Kartoffelacker Ausdruck. Zum General der Buben stilsierte sie ihn hoch, als Piratenkönigin sah sie sich in ihren Träumen mit ihm kämpfen, erst gegen ihn und dann an seiner Seite. Wie ein Bub raufte sie, ohne Zwicken und Kratzen und vor allem ohne ein Zeichen des Schmerzes – auch damals nicht, als Weidenruten auf ihren Wadeln landeten. Süße Tapferkeit.

Wir haben länger kaum geschrieben, sind selten gleichzeitig online. Vor zehn Tagen leuchtet seine Name wieder bei Skype auf. Auf Heimaturlaub in Tirol sei er, läßt er mich wissen. Ich auch, antworte ich. Ob wir uns dann nicht treffen könnten auf einen Kaffee? Klar, warum nicht. Die Stimme am Telefon am nächsten Tag klingt fremd, seine Erwachsenenstimme habe ich nie gehört.

Abends lief Odysseus im Fernsehen – eine Serie, faszinierend wie die Griechen- und Heldensagen, die die Kleine Turtle damals schon verschlang. Das wollte sie inszenieren, das kleine Mädchen in der vierten Klasse Volksschule und er, er hätte ihr Odysseus sein sollen. Welche Rolle sie übernehmen wollte, war ihr nicht ganz klar. Vielleicht die der Circe, bloß Frau zwar, aber mächtige Zaubererin.

36 Jahre sind eine lange Zeit und am Weg zum verabredeten Treffpunkt wird mir ein wenig mulmig. Aus dem Kaffee ist eine Verabredung zum Essen geworden. Ich bin zu früh dran und spaziere langsam an Auslagen vorbei. Wie seltsam, während meiner Besuche bei meiner Mutter gelingt es mir nie Freunde oder Freundinnen aus Kindheit und Schulzeit zu treffen. Wenn ich durch die Straßen der Provinzstadt gehe, sehe ich keine vertrauten Gesichter und plötzlich will ich mit einem den Abend verbringen, den ich 36 Jahre nicht gesehen hatte.

Und dann kam es, wie es kommen musste. Die kleine Turtle und ihre große Liebe wurden vom Schicksal getrennt: Nach der Volksschule besuchten sie zwei verschiedene Schulen, nicht einmal im Bus konnten sie sich treffen, er fuhr mit der Dörferlinie D oben im Dorf, sie mit der Linie 4. Sie dachte noch lang an ihn. Im Dachbodenparadies ihrer Kindheit hingen zwei Zeichnungen, die er ihr geschenkt hatte, ein Reiher und der Haller Münzturm. Sie hielt noch ein Weilchen nach ihm Ausschau, fuhr auch hin und wieder mit dem anderen Bus. Einmal traf sie ihn bei einem Volleyballmatch in der alten Schule. Es kribbelte, aber sie blieben sich fremd.

Ich bin noch immer zu früh und suche im Gastgarten nach einem, der mir irgendwie vertraut erscheint. Würde ich ihn erkennen? Er mich? Am suchenden Blick vielleicht und daran, dass man an einem lauen Sommerabend nicht allein am Tisch sitzt. Schließlich wähle ich einen Platz mit gutem Überblick. Ich erkenne ihn sofort, als er durch den Torbogen kommt. Noch immer groß, dunkel, schlank, noch immer lächelnd – er winkt mir.

Hin und wieder hatte er auch den anderen Bus genommen, gestand er und jener Blickkontakt beim Volleyballmatch hatte ihn ebenfalls elektrisiert. Auf die Firmung hätte er sich so gefreut, erzählte er, da würde er mich wiedersehen, war er sich sicher, in der Pfarrkirche im kleinen Dorf. Und so hatte er zum ersten Firmunterricht die coole Jacke angezogen und die Sonnenbrille und mit dem Zehngangrad war er gekommen, um zu imponieren. Mich haben sie im Dom gefirmt mit anderen Bürgerkindern. Da hatte ich seine Zeichnungen schon von den Wänden genommen.

Es fühlt sich tatsächlich wie ein Wiederfinden an nach all den Jahren, ohne Peinlichkeiten, ohne Verlegenheit, ohne Stress und neben der ersten kleinen großen Liebe begegnet mir auch das Mädchen wieder, das ich einmal war. Am nächsten Tag fliegt er zurück in seine neue Heimat, weit weg. Mir bleibt ein besonderer Abend und das Wissen, dass all meine Lieben – von der allerersten angefangen - „richtig“ waren.

Unter denen, die ich geliebt habe, ist niemand, mit dem ich nicht gerne noch immer einen Abend verbingen würde. Ich bin stolz und glücklich, sie in meinem Herzen und meinen Armen gehabt zu haben. Ich freue mich über alles, was ich von ihnen nehmen und lernen durfte. Und irgendwie werde ich sie alle ewig lieben.

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2325 mal erzählt

5
Jul
2010

Wonniges Wochenende

Es war ein gutes Wochenende und hat begonnen wie ein gutes Wochenende beginnen muss: mit einem Freitagnachmittag mit viel Qualitätszeit beim Erstgeborenen. Nur ein Besucher teilte mit uns Guacamole und Flämmkuchen, die ich mitgebracht hatte, Pfarrersköchin in des Erstgeborenen Chapel of Soul. Belohnt wurde ich mit einer Sommercompilation, die die Mundwinkel nach oben wandern und die Beine zucken lässt. Liebe und Schmerz in den Lyrics – Soul eben. „Keine Platte unter 50 Dollar“, informiert mich der Erstgeborene über den Wert der Sammlerstücke, die um die halbe Welt geflogen sind, um bei ihm Heimat zu finden und dankbare Ohren wie die meinen. Theodora leistet uns Gesellschaft und später Athanasius. Wir reden übers Leben und Lieben und übers Trinken. „Bist du eigentlich einsam?“ Die Frage kommt unvermutet, von dem, mit dem ich fast täglich Kurzmitteilungen austausche. „Ja“, antworte ich. Und später „Sind wir das nicht alle?“ Und noch später frage ich mich, ob ich tatsächlich einsam bin. „Ich bin nicht einsam“, sag ich irgendwann: „Ich habe dich und andere…“Und habe doch Angst, ihm Angst zu machen mit meiner seltsamen Liebe.

Am nächsten Morgen dann Frühstück mit zwei Drittel Sechseck: Mr. F und die quirlige Freundin vervollständigt mit zwei anderen wertvollen Menschen aus jener Freßgemeinde, deren Bürgermeister eben zu Grabe getragen wurde.

Am Samstagnachmittag Kindergeburtstag. Der Lieblingsneffe wird acht Jahre alt und bekommt einen Gewürzkoffer, weil er Koch werden will und weil er den von Tante und Onkel so liebt. So ein Geschenk will richtig übergeben werden, dann macht es noch einmal so viel Freude. Richtig enttäuscht ist er voererst, als er nur ein T-Shirt und ein kleines blaues Päckchen bekommt, in dem sich allerdings nach mühevoller Auspackung ein Schlüssel findet. „Wo ein Schlüssel ist, muss auch ein Schloss sein", strahlt er und macht sich auf die Suche nach dem großen Paket, mit dem er den Onkel vorher erwischt hat. Und dann kommt ihm auch ein Verdacht: „Ein Gewürzkoffer?“ Glücklich sperrt er den Koffer auf, überprüft die mitgelieferten Gewürze. Kurkuma ist da, zum Nasen (und Reis) gelb färben und Süßholz, fein geraspelt, natürlich Vanille und Paprika, Zimt und Salz, ein kleiner Mörser findet sich, ein Kräuterbuch für Kinder und eines zum selber schreiben für den Schulbuben. Wie gut er riechen und schmecken kann, stellt er bei der anschließenden Kinderolympiade auch stolz unter Beweis.

Die Nacht von Samstag auf Sonntag verbringen der Liebste und ich in der Wochenendwohngemeinschaft auf dem Land in jenem kleinen Wolkenkuckucksheim, das wir dort bewohnen dürfen. Am Sonntagmorgen wird doch das Pool aufgestellt, es sieht ja doch nach Sommer aus. Abends flieg ich schließlich nach Tirol, heim zu Mama.

War kaum eine Minute allein an diesem Wochenende und selten einsam.


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917 mal erzählt

28
Jun
2010

Es war einmal Antigone

Wir saßen uns an einem der winzigen Tische des Alt-Wiener Kaffeehauses in der Provinzstadt gegenüber. Rosa Marmor mit abgesplitterten Lack. Damals war es mir Heimat, das alte Traditionskaffee. Dort wohnten die, die mich das Leben lehrten und immer öfter durfte ich bei ihnen sitzen. Ich war ein hübsches Mädchen, ein verhurtes Gretchen wie der Prinzipal später einmal meinte, als er kurz erwog, mich im Faust zu besetzen. Eine belesene Lolita in Mutters grünem Tweedkostüm aus den 60er Jahren oder Vaters alter Lederjacke. Original Clarks an den Füßen, weite weiße Hemden, ebenfalls von Papa, schwarze Rollkragenpullis und enge Jeans. Ich rauchte Smart Export und Selbstgedrehte, trank Weiß Gespritzt und war Liebkind des Oberkellners, der schon mal einen Tisch für mich räumte und sein Proviantglas bei mir abstellte.

Das Central war meine Bühne in jenen Jahren. Meine Mitakteure, mein Publikum werde ich nie vergessen. Einer hat den Schwermetallgehalt in Schnecken gemessen und hatte Statist als Berufsbezeichnung im Pass stehen, eine war Schauspielerin und harzte Beine, einen liebte ich, weil er hässlich war und mich das rührte, einer war ein berühmter Arzt, der Jahre später meiner Mutter Schlaganfall behandelte, einer war der Vater des Frettchens, das ich später liebte, auch weil mir sein Gesicht so vertraut war, einer war Ethno-Botaniker und vertraut mit Tollkirsche und Fliegenpilz, einer war Journalist, stets auf der Jagd nach Naturkatastrophen, einer war das Auge, das mich mich selbst schön sehen lehrte, eine war seine Freundin, Krankenschwester im Irrenhaus, einer war der Erste und ich liebte ihn, eine seine Freundin und sie wusste es wohl nicht.

Einer war der Prinzipal, dem ich an diesem Abend alleine dort begegnet bin. Uns verband die Liebe zum Theater und die Liebe zum Ersten. Er hatte ihn – lange vor mir - (geliebt) den Ersten in seiner androgynen Schönheit und seiner Sinnlichkeit. Wie er mich wahr genommen hat, weiß ich nicht, ich war wohl eine Art hübsches Spielzeug, dass „seine Buben“ ins Theater geschleppt hatten, einmal auch zu ihm nach Hause zu einem Filmabend, das einzige Mädchen war ich, durfte ich sein. Doch nie vorher und nachher haben wir so gesprochen wie damals an diesem Tisch. Nicht über ihn, den wir liebten. Über Theater und über Ödipus. „Hätte es Jocaste nicht wissen müssen, dass der mit den durchbohrten Füßen ihr Sohn ist, dass sich die Prophezeiung erfüllt und hat sie sich schließlich erhängt, weil ihre Lüge aufflog?“ fragte er.

In meinem Bücherregal steht noch immer die Antigone von Jean Anoulih – sie war wohl damals auch Teil unseres Gespräches, sie hat mich bewegt und fasziniert. Das Buch hat meinem Vater gehört: „Dem jungen Doktor alles Gute für die Zukunft. Schützenheil. Weihnachten 1953“ steht drinnen, mit schwungvoller Unterschrift, jedoch unleserlich diese. Und ich seh mich wieder in meinem fremden Kinderzimmer stehen, das aufgeschlagen Buch in Händen, die Türe zu, nicht verschlossen - Schlüssel brauchen wir nicht - deklamierend. Ganz Antigone, die Tochter von Ödipus, aus voller Seele und voller Überzeugung: „Ihr widert mich alle an mit Eurem Glück! Mit Eurem Leben, das man lieben muss, koste es was es wolle. Man könnte meinen, es wären Hunde, die alles belecken, was sie finden. Diese kleine Chance für alle Tage, wenn man nicht zu anspruchsvoll ist. Ich will alles, sofort – und ganz. Oder aber ich verweigere es. Ich will nicht bescheiden sein und mich mit einem kleinen Stück begnügen, wenn ich schön brav gewesen bin. Ich will heute sicher sein, daß es alles sei und daß es so schön sei wie damals, als ich ganz klein war – Oder sterben.“

Weiter hinter im Buch finde ich eine Postkarte aus Fatima. Johannes Paul II segnet. Sie stammt von jenem alten Priester, den ich einst, bei den Toleranzgesprächen kennen gelernt hatte, und der mich – in seinen Briefen aus Brasilien für eine „Schwester im Geiste“ hielt. Ich war nie mutig genug, ihn aufzuklären, dass ich das wohl eher nicht bin. Ich war nicht einmal mutig genug, den Kontakt aufrecht zu erhalten.

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Auf der Karte steht: „Dir liebes Kind widme ich diese Karte. Bleib deinem Leben treu. Widerstehe der Versuchung.“
Ein getrocknetes Rosenblatt fällt aus dem Buch.
941 mal erzählt

21
Jun
2010

Und sonst?

Mein Leben fühlt sich derzeit an wie dieser Sommer.

Es wird den Erwartungen nicht gerecht; enttäuscht durch Platzregen, täuscht durch kurze Hitzeperioden. Mit Hochwassergefahr, Murenabgänge und Schnee auf den Passstraßen ist stets zu rechnen. Die Temperaturen passen nicht zur Jahreszeit, es ist kühl, manchmal eiskalt, dann wieder tropisch heiß; nichts ist mehr vorhersehbar, der nächste Wolkenbruch kann gleich kommen. Nie das Haus ohne Schirm verlassen oder einfach nass werden. Nur keine Pläne machen, das Wetter erlaubt das nicht.

Und so lass ich mich treiben, nehme sie hin das Leben, den Sommer und den Rest.

Nur Sonntag abends tanz ich, als würden morgen die Sommerferien beginnen...

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1020 mal erzählt
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Mock Turtle

Sit down, both of you, and don't speak a word till I've finished

Who sits there?

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Es war einmal…

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Lieber Yogi, ein bisschen frivol der Geburtstagsgruß...und...
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