20
Feb
2011

Schritt für Schritt

Wenn ich hier in der Bergheimat nachts im Vaterbett erwache, was ich jede Nacht zu oft tue, schreibe ich Texte im Kopf, Blogeinträge, Kurzgeschichten, Gedichte, Briefe an mich. Da weiß ich dann, dass der Zorn der Mutter von der Angst genährt wird, alt zu sein, dement, vergesslich, nicht mehr leben, erleben zu können und von den ungerannten Kilometern.

Ein Leben lang ist sie sich Wut, Schmerz, Verzweiflung und wohl auch die Sehnsucht aus dem Leib gegangen, über die Dörfer und Felder, ziellos, mit dem einzigen Ziel rasch und stark einen Schritt nach dem anderen, vor den anderen zu setzen. Auch im Monat meiner Geburt, im Jänner, ist sie hochschwanger über die verschneiten Felder marschiert, die kleine Frau mit dem Riesenbauch, aus dem das Kind nicht schlüpfen wollte. Der Vater sei nicht da gewesen, hat sie mir erst vor kurzem erzählt und das sie ins Schneetreiben geraten sei und es finster war und gefährlich und der unterdessen heimgekehrte Vater schon in den Krankenhäusern angerufen habe. Wovor sie damals davon gelaufen sei, warum sie das lang ersehnte Wunschkind, das ich war, gewesen sei, im Schneegestöber riskiert hat, frage ich mich, doch ich wage nicht, sie zu fragen.

Das kleine Mädchen musste sich ordentlich anstrengen, um mitzukommen, so schnell war der Schritt der ungeduldigen, verzweifelten Mutter bei den Spaziergängen in den Alpenzoo oder den Einkaufswegen in der Stadt. Bei den Sonntagsausflügen auf die Berge zeigte sie dem Kind manchmal den weiten Weg, den sie selbst als kleines Mädchen allein und zu Fuß gehen musste zur Tante auf Sommerfrische, erst in den letzten Jahren erzählte sie, wo ihr der Onkel entgegen kam und was er mit ihr gemacht hat in den dunklen Wäldern, auf den einsamen Wegen.

Später ist sie dann mit dem Vater gegen seine Depressionen anmarschiert, das Gehen habe ihm, ihr einen Psychiater erspart. Und mehr als einmal ist sie wütend aus dem Haus gerannt, um Stunden später geläutert wiederzukommen. Seit dem Schlaganfall geht das nicht mehr, kann sie dem Schmerz, dem Zorn, der Verzweiflung nicht mehr davon rennen. Am Arm des Vaters ist sie noch gegangen, die alten Wege, auch an seinem letzten Lebenstag. Doch heute reicht es nur mehr für ein paar Besorgungen in der Stadt, den Spaziergang von Vaters Grab ins Herz ihrer Heimatstadt, viele seltener eine kleine Runde irgendwo und nie allein und unabhängig, immer auf eine Stütze angewiesen.

„Ich kann mich noch an meine Träume als Kind erinnern“, erzählt sie, als sie sich heute Morgen zu mir ins Bett kuschelt: „Ich hab geträumt, dass ich in einer Schublade schlafen muss, ganz furchtbar war das.“ Und mir fällt ein, wie leichtsinnig sie die Menschen gerne in Schubladen einordnet. „Aber auch dass ich fliegen konnte“, ergänzt sie: „Mich einfach abstoßen und fliegen.“ Und plötzlich tut sie mir so leid mit diesem Leben, das so viel in Schubladen verbracht wurde und in dem sie so selten fliegen durfte. Nur rennen und das kann sie nicht mehr.

Oft hat sie mir geraten, gegen Kummer anzugehen, das sei nicht meines, habe ich gedacht und lieber dagegen angeschrieben, angefeiert, angekocht, angetrunken. Erst vor kurzem, als ich - wie so oft - das Grätzl, den Bezirk, die Stadt mit raschem Schritt durchmaß, erkannte ich das Erbgut und wie tröstend es ist. Aber auch das Wissen, dass ich fliegen kann, mich einfach abstoßen und fliegen.

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steppenhund - 20. Feb, 11:11

Wahrscheinlich geht es mir zu gut. Denn das Angehen würde mir gut tun. Gesundheitlich. Ich kann die therapeutische Wirkung gut nachvollziehen.
Allerdings gibt es in Tirol doch eine noch viel bessere Version: hinauf auf die Berge. Wenn ich in den Bergen zu Fuß unterwegs bin, fällt alles ab.
Man wird selbst klein und alles andere noch viel kleiner, bis es zur Unwesentlichkeit verschwindet.
Und dann noch Sonne auf den Felsen, die dem Pfad nicht aus dem Weg springen, und auf die braunnadelbedeckten Lichtungen, in denen das Licht noch in Strahlen wahrgenommen werden kann.
http://www.youtube.com/watch?v=nkzrSZKA4cM&feature=related
1:26 this is the theme that is connected with the feeling when walk through such places. Sibelius music is for me suited to recall the feelings even if I am a big city and far from any mountains. (Although - I believe - Sibelius only thought of forests. Aber was soll's:) )

katiza - 20. Feb, 12:39

Ich selbst gehe lieber in der Stadt als in den Bergen und Tälern, vielleicht gerad wegen dieses klein werdens angesichts der mächtigen Natur, ich ziehe die Spuren der Menschen vor....aber in meiner Familie ist die Bergtour Problemlösungsstrategie Nummer 1. Als die lustigste und fröhlichste meiner Cousinen Brustkrebs bekam, ging ihre gesamte Familie - Eltern, Geschwister, Nichte und Neffe und ihr Liebster - mit ihr auf den Berg bevor sie mit der Chemo begonnen hat. Wie sie gemeinsam den Berg bezwungen haben, haben sie auch die Krankheit besiegt!

 

Und der Sibelius ist wunderschön - ich weiß Ihren Nachhilfeunterricht in Sachen Klassik sehr zu schätzen, lieber Steppenhund.

la-mamma - 20. Feb, 12:03

ich find das schön, wie sehr du dich um verständnis für deine mutter bemühst. und in dem beitrag scheint es, dass sie es dir auf ihre weise auch nicht immer schwer machen will. (wenn ich das richtig verstanden hab.)

katiza - 20. Feb, 12:46

Ganz richtig verstanden, sie will es mir nicht schwer machen, sie kann nur nicht raus aus ihrer Haut und sie tut sich schwer damit zu erkennen, dass ich ein anderer Mensch bin als sie, mich wahrzunehmen......aber sie ist meine Mutter und ich liebe sie sehr.

testsiegerin - 20. Feb, 13:25

genau das wollte ich grad schreiben, dass ich das gefühl hab, dass da neben unverständnis, wut, zorn, verzweiflung auch unendlich viel liebe für deine mutter in dir ist.

ein schöner, berührender text.
MadProfessor - 20. Feb, 13:49

trotz des scheinbaren Unverständnis der Mutter Ihnen gegenüber und
der Enttäuschung (?), dass Sie nicht so sind wie Ihre Mutter, glaube ich,
dass sie ebenso tiefe Gefühle für sie hat wie umgekehrt ...
katiza - 20. Feb, 14:40

Ja, glaub ich auch, Herr MadProf, liebe Frau Testsiegerin, wir tun uns nur beide oft schwer im Miteinander - Mutter und Tochter, halt...
diefrogg - 20. Feb, 13:33

Ich gehe auch, viel.

Zweimal in der Woche, wenn es geht. Ich fahre hinaus aus der Stadt und gehe über die Hügel. Allerdings erlebe ich das nicht immer als Therapie. Dafür erleide ich beim gehen viel zu oft Erinnerungsschocks. Trotzdem tut es gut. Es befriedigt die Neugier in mir (nachher schlage ich immer nach, was das für Ruinen sind, die ich da gesehen habe, zum Beispiel). Es macht müde. Es macht warm. Manchmal bin ich nachher voller Sonne.

katiza - 20. Feb, 14:46

Manchmal also Walking on Sunshine, Frau Frogg - das mit den Erinnerungsschocks kenn ich, glaub ich auch, vielleicht ziehe ich auch deswegen die Stadtspaziergänge im fernen Wien den heimatlichen in den Bergen vor....
Terpsichore - 20. Feb, 18:17

"Aber auch das Wissen, dass ich fliegen kann, mich einfach abstoßen und fliegen."

Ein schönes Wissen, das Sie da haben.

katiza - 20. Feb, 22:18

Ja, Frau Terpsichore, ein uraltes Wissen, wohl auch geerbt aus den Kinderträumen meiner Mutter...
Terpsichore - 21. Feb, 09:20

Kinderträume seien in meinem Land nicht verfügbar, sagt Youtube. :(
katiza - 21. Feb, 09:29

Immer diese mächtigen Unterhaltungskonzerne, die sich die Rechte auf Träume jeder Art gesichert haben, Frau Terpsichore...vielleicht geht trotzdem der...


ConAlma - 20. Feb, 22:08

Was sie da gestern in meinem Beisein gesagt hat: dass das Nicht-Mehr-Gehen-Können einem die Würde nehme, das ist angesichts der Kraft und des erhobenen Hauptes, mit welchen sie auftritt, fast nicht zu glauben, sitzt aber offenbar tief in ihr. Die Würde, die war ihr schon viel viel früher, als sie noch rennen konnte, genommen worden.

katiza - 20. Feb, 22:21

Ja, Liebe...
Jossele - 23. Feb, 13:08

Gehen, sich gehen lassen (nicht im negativen Sinn), sich lassen, gehen, bewegen, tun und sein.
Viel ist das.
Ich könnte das mit meiner Mutter nicht.

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