17
Okt
2010

Body-Talk

Auf meinen Körper kann ich mich verlassen, er versteht es zu somatisieren. Damals etwa, als die Mock Turtle ihre Bühne im Beisl hatte. Sie fühlte sich voll Begierde angestarrt und doch nicht wahr genommen. „Nothing but a pretty face“, hämmerte es in ihrem Kopf an manchem Morgen danach und „Ich muss meine Haut retten.“ Bis sie dann mit dieser Schildkrötenhaut an der Stirn erwachte, gar nicht pretty und die Augen, die zu (ver)zaubern verstanden, die gerne Dinge versprachen, die die Turtle nicht halten wollte, versanken unter rauen und schuppigen Lidern. Wer sich nun für mich interessierte, interessierte sich für mich. Meine Haut rettete mich.

Oder damals, als der Job die Mock Turtle ankotzte, die Scheinheiligkeiten, die Gemeinheiten, die Kälte, der Verrat. Da erwachte sie fast täglich im MorgenGrauen mit diesem bitterscharfen Geschmack im Hals und erbrach grünliche Galle. Und auch später schlug mir manches auf den Magen, anderes war schlicht zum Scheißen. Als ich mich nicht mehr begehrt fühlte, versiegte der Rhythmus meiner Weiblichkeit. Heuschnupfenanfälle dämpfen meine Sinne. Die Mock Turtle zieht sich in ihren Schildkrötenpanzer zurück. Die Augen jucken, die Nase ist verstopft, nimmt keine Gerüche mehr wahr, der Mund kribbelnd, beißend, dem Geschmack verschlossen. Ich muss mich nach innen wenden, das Außen wird unzugänglich, das Innen in einem Nebel aus Rotz und Tränen abgeschirmt. Und dann das Niesen, lautes, gewaltsames, zwerchfellerschütterndes Ausatmen, das die Ohren verschließt und die Muskeln kontrahiert. Allergie ist eine Abwehrreaktion des Immunsystems.

Jetzt, da ich an so vielem zu kauen habe, da ich emotional am Zahnfleisch gehe, ist es der verfluchte Zahn. Natürlich bin ich selbst verantwortlich; Trägheit beim Putzen, mehr Achtsamkeit auf die Zähne gelegt, die offensichtlich der Welt entgegen lachen und nur flüchtig die bedacht, die im Dunkel verborgen schwerer erreichbar sind. Das kleine Loch dort hinten kennt meine Zunge schon länger. Mehr als einmal hat sie den ziehenden Schmerz ausgekostet, der entsteht wenn sie sich gegen die Zahnwurzel drückt. Dann bemühte ich mich wieder beim Putzen, die Stelle beruhigte sich, falscher Alarm. Vor gar nicht langer Zeit war ich bei der Mundhygiene, Flecken entfernen, Lebensspuren verwischen, das Lächeln polieren. Ich hab gehofft, dass das kleine Loch dabei entdeckt wird, gesagt hab ich nichts, ganz „mündige Patientin“. Zuviel Angst vor einer Wurzelbehandlung, davor dass der Zahn gerissen werden muss, den Schmerzen, dem Aufwand, den Kosten, dem bleibenden Schaden, Trennungsschmerz. Also hab ich zugewartet, hab den Schmerz weiter genutzt, um zu fokussieren, weil eben nie zwei Schmerze gibt, sondern immer nur einen, an dem man sich festhält.

Freitagabend dann setzt sich der Schmerz endlich durch. Von der Seele, dem Kopf, dem Herzen, von seiner dumpfen Alllgegenwart bündelt er sich scheinbar an jener Stelle in der Mundhöhle.
Samstagvormittag sitzen acht Menschen im Warteraum des diensthabenden Zahnarztes, die Schmerzen verbünden uns, wir sind freundlich und geduldig miteinander, drücken der sonnig blonden Zahnarztassistentin – meine Mutter war das auch einmal – die E-Card in die Hand, füllen Anamnesebögen aus , gehen zum Röntgen, es geht schnell und still und ich lese „Zahnarzt“-Magazine, heische auf Facebook um Mitleid und vertiefe mich im mitgebrachten Buch. Der dicke Klischeewiener neben mir, flirtet wohl und kurz frage ich mich, welcher der wenigen verbleibenden Zähne in seinem breiten Lächeln wohl weh tun könnte. Er hat Probleme mit dem „ungeduldigem Menschen“, der ihn chauffiert, wie er mir mitteilt, nachdem wir alle es schon in einem Telefonat gehört hatten. Die altmodische Art der Mitleidsheische.

„Komplett vereitert“, stellt der hübsche Zahnarzt fest. Wie gut aussehend all diese Zahnärzte sind, denke ich keine dicken, grauhaarigen Herren wie in meiner Kindheit. Als reich galten sie immer, jetzt sind sie auch noch schön. Und er entdeckt ein tiefes Loch bis weit in die Wurzel. Im Moment ließe sich nichts machen, zu vergiftet vom Eiter verschwollen seien der Zahn, das Kiefer; der ganze Mund, alle Zähne, möchte es mir scheinen. Der Zahn muss raus, dann wenn die Schwellung weg ist, er verschreibt mir Schmerzmittel, Antibiotika, Mundspülung. Wie eine Amputation, dachte ich vor kurzem. Ein Zahn der gerissen werden muss, ein Stück von sich, das man hergeben muss, das fehlt, das ersetzt werden kann, ein Zahn nur.

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Mock Turtle

Sit down, both of you, and don't speak a word till I've finished

Who sits there?

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