Leben und sich leben lassen
"Ich bin doch bloß ein Punkt im Universum und wenn ich nicht mehr da bin, ist es auch egal", erklärte er mir in dem kleinen, spießigem Kaffeehaus gegenüber der Klinik: "Nur mir tut das Leben dann nicht mehr weh." Zwanzig Jahre ist das her. Ich hatte damals keine Antwort für den Cousin, der seinen 18. Geburtstag nicht erleben wollte. Nie zuvor und wohl nie nachher war er mir so nahe. Vorher war er der Kleine, später kam mir meine Eitelkeit dazwischen. Gefeiert hat er den Achtzehnten irgendwann damals, in der "Offenen". Zwei Torten bekam er. Und viele Geschenke – die anderen dort, die ihn sehr mochten, und die Familie, die buhlte, wollten ihm irgendetwas geben. Während der Besuchszeiten herrschte der kalte Krieg zwischen Vater und Mutter, Vaterschwester und Mutterschwester, Vaterfamilie und Mutterfamilie. Schuldzuweisungen und Bemühen. Die Psychiaterin, die auch mit uns verwand ist, erklärte mir was von suizidant und suizidär. Er sei nicht einer, der einfach nur damit drohe, er sei einer, der wirklich gehen wolle. Damals waren es noch Tabletten – zum zweiten Mal. Wir redeten viel, rauchten und er roch an seinen Fingern, weil er das Rauchen hasste. Ich glaubte ihn zu verstehen, nicht wegen des Rauchens, wegen des Punkts und des Schmerzes, den das Denken verursacht.
Später dann legte er sich vor den Zug. Dabei hatte er versprochen nach Wien zu kommen, um mich zu besuchen. Ein Schneepflug erfasste ihn und im Rettungshubschrauber schrie er die Ärzte an: "Lasst mich doch sterben!" Sie sperrten ihn auf die "Geschlossene". Da gab es innen keine Türschnallen mehr. Der kalte Krieg zu den Besuchszeiten ging weiter. Zum Rauchen durften wir nicht mehr ins Kaffeehaus. Einmal saßen wir auf einer Bank vor der Tür. "Warum hast du mir nicht gesagt, dass du nicht zu mir nach Wien kommen willst?", scherzte ich plump. "Wenn du mich gesehen hättest, hättest du es gewusst", darauf war ich lange stolz. Einem, mit dem er sich angefreundet hatte, gelang die Flucht. Der warf sich vor den Zug. Auch das gelang dem. Er fühlte sich schuldig. "Die da oben wollen dich nicht", sagte ich ihm, obwohl ich eigentlich nicht an die dort oben glaubte und: "Du hast noch einen Job zu erledigen." Das zumindest glaubte ich.
Dann studierte er in einer anderen Stadt, weit weg von der Familie. Er wohnte im Studentenheim, ganz oben. Das machte mir manchmal Angst. Er ging in Therapie. Ich auch. Er hatte einen Psychiater, den er hasste und liebte, ich bloß eine Therapeutin, die ich schätzte. Zwei oder drei Mal haben wir ihn geholt, der Liebste und ich, dort unten in seiner Stadt. Einmal bei Schneetreiben. Dann haben wir lange geredet und geraucht und er hat an seinen Fingern gerochen. Am nächsten Tag war er weg. Einmal hat er es noch probiert – dem Psychiater zufleiß. Da war er dann wieder auf einer "Geschlossenen". Ich hab ihn auch damals besucht. Rauchen vor der Tür.
Er hat überlebt, das Studium abgeschlossen und auch nach und nach mit uns abgeschlossen. Zu meiner Hochzeit ist er nicht gekommen. Zu keinem großen Familienfest. Er hat nicht einmal angerufen. Das nahm ich ihm ein wenig übel. Wenigstens beim Liebsten hätte er sich bedanken können, sagte ich. Manchmal haben wir uns gesehen. Einmal bei der Cousine, da war die Freundin dabei. Einmal bei seinem Bruder. Einmal hat er meine Mutter nach ihrem Schlaganfall besucht. Nach meinem ersten Naikan, habe ich ihm ein langes E-Mail geschrieben, hab ihn gebeten auf meine Mutter zuzugehen. Wir konnten uns nicht verständigen.
Zuletzt haben wir uns bei der Hochzeit der Cousine gesehen. Es war ihr wichtig, dass er gekommen ist. Die beiden hatten einen guten Draht zueinander und während sie gegen den Krebs kämpfte, haben sie oft telefoniert. Er raucht nicht mehr. Am Morgen nach der Feier haben wir uns im Kaffeehaus zum Frühstück getroffen. Im Urlaub bekam ich eine SMS von ihm. Er war mit der Freundin in Wien und hätte gerne uns gerne getroffen. "Bin leider in Palermo" war meine Antwort. Ich habe mich gefreut, dass er mich hätte sehen wollen.
Als ich diesmal aus dem Schweigen zurückkehrte, berichtete mir der Liebste, dass der Cousin einen Herzinfarkt gehabt hätte. Nur Tage zuvor habe ich sein Kindergesicht vor mir gesehen. Glück im Unglück hätte er gehabt, erzählte mir sein Bruder. Ich schickte eine SMS. Er antwortete, bitter, getroffen eben von der überraschenden Attacke. Ich schrieb noch einmal zurück: "Die da oben wollen dich nicht. Hab dich lieb." "Danke" war die Antwort.
Gestern habe ich ihn angerufen. Wir haben lange geredet über das Herz, das Leben und den Tod. Er hat mir erzählt von der Nacht in der Intensivstation, als er bei jedem Piepsen dachte, dass es aus ist. Von der Angst. Und davon, wie er plötzlich ganz ruhig wurde, bereit war alles geschehen zu lassen. Ganz kurz nahm er auf damals Bezug. Wir haben über die Cousine geredet und Krebs und darüber was uns der Tod oder zumindest seine Nähe über das Leben lehren kann. Über den Schuss vor den Bug, der eine Chance sein kann. Ishin Yoshimoto habe ich zitiert mit "Verführt von dem Gedanken, dass es ein Morgen gibt, lebe ich mein Heute ohne Essenz." Wir haben auch über die Familie geredet, und dass sie doch irgendwie gut ist trotz des Wahnsinns. "Das nächste Mal ruf ich früher an, wenn ich dich auf einen Kaffee treffen will", hat er schließlich gesagt. Das ist schön.
Erst nachher hab ich wahr genommen, was ich bisher nicht gesehen habe: Dass ich mich auch an ihm schuldig gemacht habe mit Zynismus und Eitelkeit. Und dass es gut ist, dass er noch immer da ist, der Punkt im Universum.
Später dann legte er sich vor den Zug. Dabei hatte er versprochen nach Wien zu kommen, um mich zu besuchen. Ein Schneepflug erfasste ihn und im Rettungshubschrauber schrie er die Ärzte an: "Lasst mich doch sterben!" Sie sperrten ihn auf die "Geschlossene". Da gab es innen keine Türschnallen mehr. Der kalte Krieg zu den Besuchszeiten ging weiter. Zum Rauchen durften wir nicht mehr ins Kaffeehaus. Einmal saßen wir auf einer Bank vor der Tür. "Warum hast du mir nicht gesagt, dass du nicht zu mir nach Wien kommen willst?", scherzte ich plump. "Wenn du mich gesehen hättest, hättest du es gewusst", darauf war ich lange stolz. Einem, mit dem er sich angefreundet hatte, gelang die Flucht. Der warf sich vor den Zug. Auch das gelang dem. Er fühlte sich schuldig. "Die da oben wollen dich nicht", sagte ich ihm, obwohl ich eigentlich nicht an die dort oben glaubte und: "Du hast noch einen Job zu erledigen." Das zumindest glaubte ich.
Dann studierte er in einer anderen Stadt, weit weg von der Familie. Er wohnte im Studentenheim, ganz oben. Das machte mir manchmal Angst. Er ging in Therapie. Ich auch. Er hatte einen Psychiater, den er hasste und liebte, ich bloß eine Therapeutin, die ich schätzte. Zwei oder drei Mal haben wir ihn geholt, der Liebste und ich, dort unten in seiner Stadt. Einmal bei Schneetreiben. Dann haben wir lange geredet und geraucht und er hat an seinen Fingern gerochen. Am nächsten Tag war er weg. Einmal hat er es noch probiert – dem Psychiater zufleiß. Da war er dann wieder auf einer "Geschlossenen". Ich hab ihn auch damals besucht. Rauchen vor der Tür.
Er hat überlebt, das Studium abgeschlossen und auch nach und nach mit uns abgeschlossen. Zu meiner Hochzeit ist er nicht gekommen. Zu keinem großen Familienfest. Er hat nicht einmal angerufen. Das nahm ich ihm ein wenig übel. Wenigstens beim Liebsten hätte er sich bedanken können, sagte ich. Manchmal haben wir uns gesehen. Einmal bei der Cousine, da war die Freundin dabei. Einmal bei seinem Bruder. Einmal hat er meine Mutter nach ihrem Schlaganfall besucht. Nach meinem ersten Naikan, habe ich ihm ein langes E-Mail geschrieben, hab ihn gebeten auf meine Mutter zuzugehen. Wir konnten uns nicht verständigen.
Zuletzt haben wir uns bei der Hochzeit der Cousine gesehen. Es war ihr wichtig, dass er gekommen ist. Die beiden hatten einen guten Draht zueinander und während sie gegen den Krebs kämpfte, haben sie oft telefoniert. Er raucht nicht mehr. Am Morgen nach der Feier haben wir uns im Kaffeehaus zum Frühstück getroffen. Im Urlaub bekam ich eine SMS von ihm. Er war mit der Freundin in Wien und hätte gerne uns gerne getroffen. "Bin leider in Palermo" war meine Antwort. Ich habe mich gefreut, dass er mich hätte sehen wollen.
Als ich diesmal aus dem Schweigen zurückkehrte, berichtete mir der Liebste, dass der Cousin einen Herzinfarkt gehabt hätte. Nur Tage zuvor habe ich sein Kindergesicht vor mir gesehen. Glück im Unglück hätte er gehabt, erzählte mir sein Bruder. Ich schickte eine SMS. Er antwortete, bitter, getroffen eben von der überraschenden Attacke. Ich schrieb noch einmal zurück: "Die da oben wollen dich nicht. Hab dich lieb." "Danke" war die Antwort.
Gestern habe ich ihn angerufen. Wir haben lange geredet über das Herz, das Leben und den Tod. Er hat mir erzählt von der Nacht in der Intensivstation, als er bei jedem Piepsen dachte, dass es aus ist. Von der Angst. Und davon, wie er plötzlich ganz ruhig wurde, bereit war alles geschehen zu lassen. Ganz kurz nahm er auf damals Bezug. Wir haben über die Cousine geredet und Krebs und darüber was uns der Tod oder zumindest seine Nähe über das Leben lehren kann. Über den Schuss vor den Bug, der eine Chance sein kann. Ishin Yoshimoto habe ich zitiert mit "Verführt von dem Gedanken, dass es ein Morgen gibt, lebe ich mein Heute ohne Essenz." Wir haben auch über die Familie geredet, und dass sie doch irgendwie gut ist trotz des Wahnsinns. "Das nächste Mal ruf ich früher an, wenn ich dich auf einen Kaffee treffen will", hat er schließlich gesagt. Das ist schön.
Erst nachher hab ich wahr genommen, was ich bisher nicht gesehen habe: Dass ich mich auch an ihm schuldig gemacht habe mit Zynismus und Eitelkeit. Und dass es gut ist, dass er noch immer da ist, der Punkt im Universum.
katiza - 4. Sep, 11:50
2 Kommentare - Kommentar verfassen - 0 Trackbacks
739 mal erzählt
ConAlma - 4. Sep, 13:15
Wie sehr mich das immer trifft: sich selbst schuldig gemacht zu haben außerhalb des eigenen Wahrnehmungsvermögens
dfw - 4. Sep, 14:17
das haben sie nicht, liebe katiza, sich schuldig gemacht, nicht an ihm ! weder mit zynismus noch eitelkeit. seine "schuld" können sie nicht tragen, so wie niemandes schuld (meister echhart). schon gar nicht die "schuld der ganzen welt". so ist dieses leben eingerichtet - für uns alle. jeder lebt sein eigenes leben, er das seine, sie das ihre und ich das meine.
wie sagen sie so schön ? "leben und sich leben lassen".
katiza: ich kann auch nicht ihren rucksack tragen. und fühl mich gar nicht schuldig dabei. meiner wäre sowieso viel zu schwer für sie ! schreib ich ganz salopp.
zum trost: er ist das universum. mit uns allen !
wie sagen sie so schön ? "leben und sich leben lassen".
katiza: ich kann auch nicht ihren rucksack tragen. und fühl mich gar nicht schuldig dabei. meiner wäre sowieso viel zu schwer für sie ! schreib ich ganz salopp.
zum trost: er ist das universum. mit uns allen !
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