Heimat, fremde Heimat
„Schau bei den Großeltern vorbei“, sagt meine Mutter, als ich zum Friedhof fahre, zu meinem Vater. Natürlich mache ich das. Ich könnte gar nicht anders. Der Weg zu meines Vaters Grab führt direkt an dem seiner Schwiegereltern vorbei. Lavendel und Rosen blühen dort. Wie daheim im Garten. Hummeln und Schmetterlinge. Stiefmütterchen am Grab der Großeltern. Wiewohl sie fast täglich in den Erzählungen meiner Mutter vorkommen – und das seit ihrem Tod in den 1970er Jahren – kann ich mich an die, von denen sie spricht, nicht erinnern.
Der Großvater war Spengler- und Glasermeister. Die Werkstatt in dem mittelalterlichen Haus, das ihm gehörte, war zur Gasse hin offen. Manchmal durfte das kleine Mädchen dort Kupfer ausstanzen. Riesige orange glänzende Dachrinnen lagen auf den Werkbänken und beeindruckende Maschinen wachten über das Halbdunkel des steinerenene Gewölbes. Alle trugen blaue Monturen: der Großvater, der heitere Lieblingsonkel, die Arbeiter. Braun gebrannte, muskulöse Männer – trainiert und gegerbt von der Arbeit auf den heißen Dächern und der Freizeit in den Bergen.
Dunkel erinnere ich mich auch an das Geschirrgeschäft der Großmutter gleich nebenan. Das Haus war schon damals fast sagenumwoben für mich. Oft hat mir die Mutter erzählt, wie sie lahm und blind von der Diphterie dort oben in ihrem Zimmer lag und ihre Mama ständig zwischen Laden und krankem Kind pendelte. In der Kinderheimat meiner Mutter, der Rosengasse, habe ich auch einmal den Mann im Mond gesehen. Oben am Himmel. Er trug Anzug und Krawatte. An ihn kann ich mich genau erinnern. An meine Großmutter, die Mama meiner Mama, kaum.
Sie konnte sehr böse sein, hatte mein Papa ein- oder zweimal angemerkt, leise und sehr bedacht, meine Mutter nicht zu verletzen. „Dein Vater hat meine Mama sehr gemocht“, sagt die Mutter. Ihn kann ich nicht mehr fragen.
Sie wurde 1902 geboren, lese ich, als ich auch die Kerze auf ihrem Grab austausche. Ich rechne nach. Sie war 27, als sie der schmucke Handwerker schwängerte. „Er wollte nicht Spengler werden“, sagt die Mutter. Er war voll Ängsten, erklärt sie. Ich habe ihn mit einem Rotweinglas vor sich auf dem Tisch in Erinnerung. Früher war auch hin und wieder von Schlägen die Rede. Die letzten Jahre nie mehr. „Ich hab vom Papa träumt“, sagt sie am Freitagmorgen: „Meinem Papa, als feschen jungen Mann.“
Vor genau 80 Jahren – im Juli 1929 – muss sie gezeugt worden sein. Ihre Mutter kellnerte bei der Schwester im wohl florierenden Kurbad. Es war ein erfolgreiches Tourismusjahr in Tirol, die Weltwirtschaftskrise war noch nicht ausgebrochen, das Bad bei den Gästen sehr beliebt. Man annoncierte mit „rein arischen Gästen“.
Auf einem Foto sieht man eine kokette junge Frau. Sie wirkt fröhlich. Ständig gesungen habe sie, erzählt die Mutter, Schlager und Operettenmelodien, Slezak, Tauber. Dort im Badgasthaus haben sie sich wohl kennen gelernt. Geheiratet haben sie im Jänner des darauf folgenden Jahres, im April kam meine Mutter. Darüber wurde nie gesprochen.
Vier weitere Kinder folgten, ein Bub starb an der Diphterie, die meine Mutter überlebt hatte. Der nächste Sohn, damals bereits unterwegs, erhielt denselben Namen. Die jüngste Tochter bekam sie mit Mitte 40. Ein schweres Leben, sagt die Mutter. Manchmal sei sie auf ein Glas vorbei gekommen, erzählt mir der Gemischtwarenhändler bei der Hochzeit der Cousine. Auch sie – wie meine Mutter und die Großmutter - eine späte Braut.
Die Großmutter war eine kleine, zarte Frau, mit bitterem Zug um den Mund, mit braunen und blauen Kleidern. Das kleine Mädchen fand kaum Zugang zu ihr. In der Erinnerung vermeine ich den Zorn meiner Mutter in ihr zu spüren.
Ob sie wusste, dass der Mann ihrer Schwester, der Politiker und Wirt, ihre Tochter missbrauchte? Sommer für Sommer, wenn das kleine Mädchen zur geliebten Tante ins Kurbad zog, ein hungriges Maul weniger in den Kriegsjahren. Hunderte Male habe ich gehört, wie sie zu Fuß von der Kleinstadt ins Gebirgsbad marschiert ist, wie lang und steil der Weg war, wie sie sich gefürchtet hat. Erst viel später, in den letzten Jahren, wurde der Grund ihrer Ängste klar. Der Onkel, der sie begleitet hat.
In diesen Tagen zuhause will das kleine Mädchen, das ich einmal war, gar nicht mehr von meiner Seite weichen. Es sucht nach Spuren. Es wirkt verloren. Es hat das Gefühl, nicht her zu passen, zu stören. Dabei war es so erwartet worden, sagt die Mutter: „Das Beste in meinem Leben.“ Und doch nicht gut genug, glaubt das kleine Mädchen. Das Chaos in der Ordnung.
In meinem Elternhaus herrscht Ordnung. Nichts darf diese Ordnung stören. Wirft die Decke auf der ich sitze, Falten, muss ich aufstehen und sie gerade streifen. Die Fransen der Teppiche sind in eine Richtung ausgerichtet. Das benutzte Glas wird sofort ausgewaschen und an seinen angestammten Platz geräumt. Nach dem Händewaschen wird das Waschbecken ausgetrocknet. Täglich wird ums Haus gekehrt, werden abgestorbene Blüten entsorgt. Meine Mutter weiß, welches Buch ich aus dem Regal genommen habe und welche Schublade ich geöffnet habe. Das war so seit ich denken kann. Und seit ich denken kann, habe ich diese Ordnung gestört. Absichtslos. Und doch gestört.
Wenn ich meine Mutter besuche, müssen Koffer und Kleider in den Keller, die Handtasche bleibt im Vorraum, wird sie doch ins Zimmer genommen, muss sie diskret verräumt werden Keine Spuren meines Daseins, wenig Spuren meiner Kindheit. Bilder ja, aber kaum Geschichten, Erinnerungen, Anekdoten.
Das kleine Mädchen weint. Abends fährt es am Friedhof vorbei, Samstagabend in die Heimatstadt der Mutter. Die Mondsichel lächelt. Danke Papa.

Der Großvater war Spengler- und Glasermeister. Die Werkstatt in dem mittelalterlichen Haus, das ihm gehörte, war zur Gasse hin offen. Manchmal durfte das kleine Mädchen dort Kupfer ausstanzen. Riesige orange glänzende Dachrinnen lagen auf den Werkbänken und beeindruckende Maschinen wachten über das Halbdunkel des steinerenene Gewölbes. Alle trugen blaue Monturen: der Großvater, der heitere Lieblingsonkel, die Arbeiter. Braun gebrannte, muskulöse Männer – trainiert und gegerbt von der Arbeit auf den heißen Dächern und der Freizeit in den Bergen.
Dunkel erinnere ich mich auch an das Geschirrgeschäft der Großmutter gleich nebenan. Das Haus war schon damals fast sagenumwoben für mich. Oft hat mir die Mutter erzählt, wie sie lahm und blind von der Diphterie dort oben in ihrem Zimmer lag und ihre Mama ständig zwischen Laden und krankem Kind pendelte. In der Kinderheimat meiner Mutter, der Rosengasse, habe ich auch einmal den Mann im Mond gesehen. Oben am Himmel. Er trug Anzug und Krawatte. An ihn kann ich mich genau erinnern. An meine Großmutter, die Mama meiner Mama, kaum.
Sie konnte sehr böse sein, hatte mein Papa ein- oder zweimal angemerkt, leise und sehr bedacht, meine Mutter nicht zu verletzen. „Dein Vater hat meine Mama sehr gemocht“, sagt die Mutter. Ihn kann ich nicht mehr fragen.
Sie wurde 1902 geboren, lese ich, als ich auch die Kerze auf ihrem Grab austausche. Ich rechne nach. Sie war 27, als sie der schmucke Handwerker schwängerte. „Er wollte nicht Spengler werden“, sagt die Mutter. Er war voll Ängsten, erklärt sie. Ich habe ihn mit einem Rotweinglas vor sich auf dem Tisch in Erinnerung. Früher war auch hin und wieder von Schlägen die Rede. Die letzten Jahre nie mehr. „Ich hab vom Papa träumt“, sagt sie am Freitagmorgen: „Meinem Papa, als feschen jungen Mann.“
Vor genau 80 Jahren – im Juli 1929 – muss sie gezeugt worden sein. Ihre Mutter kellnerte bei der Schwester im wohl florierenden Kurbad. Es war ein erfolgreiches Tourismusjahr in Tirol, die Weltwirtschaftskrise war noch nicht ausgebrochen, das Bad bei den Gästen sehr beliebt. Man annoncierte mit „rein arischen Gästen“.
Auf einem Foto sieht man eine kokette junge Frau. Sie wirkt fröhlich. Ständig gesungen habe sie, erzählt die Mutter, Schlager und Operettenmelodien, Slezak, Tauber. Dort im Badgasthaus haben sie sich wohl kennen gelernt. Geheiratet haben sie im Jänner des darauf folgenden Jahres, im April kam meine Mutter. Darüber wurde nie gesprochen.
Vier weitere Kinder folgten, ein Bub starb an der Diphterie, die meine Mutter überlebt hatte. Der nächste Sohn, damals bereits unterwegs, erhielt denselben Namen. Die jüngste Tochter bekam sie mit Mitte 40. Ein schweres Leben, sagt die Mutter. Manchmal sei sie auf ein Glas vorbei gekommen, erzählt mir der Gemischtwarenhändler bei der Hochzeit der Cousine. Auch sie – wie meine Mutter und die Großmutter - eine späte Braut.
Die Großmutter war eine kleine, zarte Frau, mit bitterem Zug um den Mund, mit braunen und blauen Kleidern. Das kleine Mädchen fand kaum Zugang zu ihr. In der Erinnerung vermeine ich den Zorn meiner Mutter in ihr zu spüren.
Ob sie wusste, dass der Mann ihrer Schwester, der Politiker und Wirt, ihre Tochter missbrauchte? Sommer für Sommer, wenn das kleine Mädchen zur geliebten Tante ins Kurbad zog, ein hungriges Maul weniger in den Kriegsjahren. Hunderte Male habe ich gehört, wie sie zu Fuß von der Kleinstadt ins Gebirgsbad marschiert ist, wie lang und steil der Weg war, wie sie sich gefürchtet hat. Erst viel später, in den letzten Jahren, wurde der Grund ihrer Ängste klar. Der Onkel, der sie begleitet hat.
In diesen Tagen zuhause will das kleine Mädchen, das ich einmal war, gar nicht mehr von meiner Seite weichen. Es sucht nach Spuren. Es wirkt verloren. Es hat das Gefühl, nicht her zu passen, zu stören. Dabei war es so erwartet worden, sagt die Mutter: „Das Beste in meinem Leben.“ Und doch nicht gut genug, glaubt das kleine Mädchen. Das Chaos in der Ordnung.
In meinem Elternhaus herrscht Ordnung. Nichts darf diese Ordnung stören. Wirft die Decke auf der ich sitze, Falten, muss ich aufstehen und sie gerade streifen. Die Fransen der Teppiche sind in eine Richtung ausgerichtet. Das benutzte Glas wird sofort ausgewaschen und an seinen angestammten Platz geräumt. Nach dem Händewaschen wird das Waschbecken ausgetrocknet. Täglich wird ums Haus gekehrt, werden abgestorbene Blüten entsorgt. Meine Mutter weiß, welches Buch ich aus dem Regal genommen habe und welche Schublade ich geöffnet habe. Das war so seit ich denken kann. Und seit ich denken kann, habe ich diese Ordnung gestört. Absichtslos. Und doch gestört.
Wenn ich meine Mutter besuche, müssen Koffer und Kleider in den Keller, die Handtasche bleibt im Vorraum, wird sie doch ins Zimmer genommen, muss sie diskret verräumt werden Keine Spuren meines Daseins, wenig Spuren meiner Kindheit. Bilder ja, aber kaum Geschichten, Erinnerungen, Anekdoten.
Das kleine Mädchen weint. Abends fährt es am Friedhof vorbei, Samstagabend in die Heimatstadt der Mutter. Die Mondsichel lächelt. Danke Papa.

katiza - 28. Jul, 20:58
6 Kommentare - Kommentar verfassen - 0 Trackbacks
1154 mal erzählt
steppenhund - 5. Aug, 14:01
Ich kommentiere hier selten bis gar nicht. Ich lese auch nur selten, dann aber mehrere Einträge. Warum das so ist, tut nichts zur Sache und bedeutet keinesfalls Ablehnung des Blogs oder der Einträge.
-
Zu diesem Eintrag fiele mir so vieles ein. Da werden sehr viele Anknüpfungspunkte geboten, von denen jeder einzelne reiche Ernte an Kommentaren einfahren könnte.
-
Vieles schwingt hier an und ich habe nur begonnen zu schreiben, weil ich gleich wieder wegen eines Termins schließen muss.
-
Die Assoziationen fließen frei von Rosegger, über meine Großeltern beiderseits zu Kinsey, über den am Sonntag ein Film lief.
Vielleicht raffe ich mich noch auf, mehr zu schreiben, vielleicht ist das aber gar nicht wichtig. Der Text ist angekommen.
-
Zu diesem Eintrag fiele mir so vieles ein. Da werden sehr viele Anknüpfungspunkte geboten, von denen jeder einzelne reiche Ernte an Kommentaren einfahren könnte.
-
Vieles schwingt hier an und ich habe nur begonnen zu schreiben, weil ich gleich wieder wegen eines Termins schließen muss.
-
Die Assoziationen fließen frei von Rosegger, über meine Großeltern beiderseits zu Kinsey, über den am Sonntag ein Film lief.
Vielleicht raffe ich mich noch auf, mehr zu schreiben, vielleicht ist das aber gar nicht wichtig. Der Text ist angekommen.
katiza - 23. Aug, 19:01
Es freut mich, dass der Text angekommen ist.
Zu Ihren einleitenden Worten - ich habe es lange bei Ihnen sehr ähnlich gehalten - warum das so ist, tut nichts zur Sache (dieser Satz weckt Neugier und Widerpsruchsgeist gleichermaßen, nicht wahr?) ;-) - mittlerweile stehen Sie doch auf meiner Aboliste und ich schätze Ihre Kommentare...
Zu Ihren einleitenden Worten - ich habe es lange bei Ihnen sehr ähnlich gehalten - warum das so ist, tut nichts zur Sache (dieser Satz weckt Neugier und Widerpsruchsgeist gleichermaßen, nicht wahr?) ;-) - mittlerweile stehen Sie doch auf meiner Aboliste und ich schätze Ihre Kommentare...
steppenhund - 9. Sep, 23:31
Ich nehme an, dass ich mir vorstellen kann, warum das so ist oder war. Und dieser Satz weckt doch wohl die gleiche Neugier und den gleichen Widerspruchsgeist, oder? :)
katiza - 9. Sep, 23:40
Wir bleiben kryptisch...
Trackback URL:
https://katiza.twoday.net/stories/5848898/modTrackback