1
Nov
2011

Save our souls...

Ich sitze im Zug, erleichtert und glücklich bin ich eingestiegen, fünf Tage, vier Nächte war ich bei der Mutter zu Gast im hellhörigen Elternhaus in einem Leben, das nicht meines ist, mit mir nichts zu tun hat oder nur wenig, so wenig wie sie von meinem Ich zulässt. Am zweiten Tag gibt es immer Streit, egal wie sehr ich mich in Zen oder die Kunst die Mutter zu lieben übe, wie ich mich anstrenge, wie viele Kleidungsstücke ich mitnehme, um ihren Traumvorstellungen zu genügen und egal, ob ich mein Haar wild und lockig trage oder sauber zurück gebunden. Das kleine Mädchen schreit nach Aufmerksamkeit, die Mutter hört das Schreien und überschreit es mit ihren Klagen.

„Weißt du noch“, erzähle ich von jenem allerersten Theaterauftritt. Die Müllerstochter war ich im Rumpelstilzchen im Haus der Frau des Architekten, im Publikum die Mütter und die Architektenwitwe, Den Königssohn spielte eine, die später beste Freundin war. Das Talent zum Pathos habe ich wohl von der Mutter geerbt und heftig outriert und geklagt, dass ich Stroh zu Gold spinnen soll. Das Rumpelstilzchen aber war zu jung und stampfte auf, wie es die Rolle vorschreibt: „Ich mag nicht mehr!“ sagte es dann statt „Ach wie gut, dass niemand weiß…“ und verließ die Bühne.

Die Mutter schüttelt den Kopf, ihre Lippen werden schmal, sie zweifelt die Erinnerung an, wie so viele meiner Erinnerungen, sicher sei sie einmal in dem Haus gewesen zum Kaffee, nicht um die einzige Tochter beim ersten Theaterauftritt zu erleben. „Und später?“ will ich wissen: „All die Krippenspiele?“ Sie habe kein Auto gehabt, sei wohl nicht dabei gewesen, doch ich kann mich erinnern an meine Mama in der ersten Reihe. An das taiwanesische Baby, das sie einst dort adoptieren wollte und von dem ich Jahre gehört habe, dass es wohl das bessere, dankbarere Kind gewesen wäre, erinnert sie sich genau und an dessen Mutter und alles rundherum.

Ich frag noch einmal nach am nächsten Tag, bitte sie mir eine Geschichte aus meiner Kindheit zu erzählen. Sie sei mit mir oft und lange allein spazieren gegangen und hätte sich so alt gefühlt beim Elternsprechtag, sie habe mir den Schulweg auf Kassette gesprochen. „Und ich?“, will ich wissen. Am Abend hätten wir immer alles ausgeredet, auch wenn sie zornig gewesen sei, sie hätte es schwer gehabt, wäre allein gewesen, der Vater nie da, eifersüchtig auf das kleine Mädchen. „Ihr wart gut für mich“, sag ich ihr und „Danke“ – das tröstet uns beide.

Wenn sie mich fragen würde, ob es jemanden gibt in meinem Leben, den ich liebe, würde ich ihr vom Einen erzählen, weil ich sie nicht anlügen will, darf. Doch sie fragt nicht und so kann ich ihn in meinem Herzen schützen vor ihrer bösen Zunge und den spitzen Worten, mit denen sie jeden Menschen durchbohrt hat, den ich je geliebt habe, wie die Spiegelsplitter der Schneekönigin.

Und dann bricht wieder der Schmerz aus ihr hervor, das verpatzte, verpasste Leben, all das, was ihr die Vaterfamilie angetan hat, deren Namen ich mit Stolz trage und sie mit Verachtung ausspricht. Längst habe ich aufgehört die geliebteren Papa-Großeltern zu verteidigen; ich spreche nicht mehr über die Cousinen, die weder das Haus betreten dürfen, noch zu ihrem Begräbnis kommen, wenn sie dann – bald , wie sie versichert – stirbt. Manchmal bitte ich sie die Litanei zu stoppen, Frieden zu schließen mit denen die 40 oder auch nur 10 Jahre tot sind. Dass sie den Vater nicht geliebt sondern geachtet hat, kommt zwischendurch und tut auch weh, ich wäre so gerne ein Kind der Liebe gewesen.

Abends sagt sie einmal: „Wenn ich jetzt einfach hinüber schlaf, bin ich selbst im Tod ein Schnäppchen.“ Der Tod, ihr Tod, begleitet uns in diesen Tagen, schon seit Jahren, seit viel zu vielen, ich habe mich dran gewöhnt und fürchte ihn doch wie den Tod des Vaters, der hinterrücks in mein Leben eingedrungen ist und alles verändert hat. Dass sie gerade heute besonders viel von ihrem Tod spricht, muss an Allerheiligen liegen und weil ich abreise und informiert sein soll, was zu tun und zu unterlassen.

„Ach, Mama“, sag ich und nehm sie in den Arm; versuche mit ihr zu scherzen, die von sich selbst sagt, dass sie nicht lachen kann, höre die Geschichten, die uralten und ein paar neue alte, die manches erklären. Dann bin ich froh im Zug zu sitzen, am Weg zurück in mein Leben, ich werde anrufen, wenn ich anrufe. Und dann ruft der Nachbar an, die Mutter ist im Krankenhaus, Blaulicht, ein Schwächeanfall. „Siehst du“, sagt das kleine Mädchen: „Sie hat immer recht, sie weiß alles, sie ist deine Mama…“ und krallt sich in mein Herz. Ich habe solche Angst, sie zu verlieren.

Mama, bitte bleib noch bei mir, bitte!
Heute ist Allerseelen.

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Sit down, both of you, and don't speak a word till I've finished

Who sits there?

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