27
Jun
2007

Aus der Zeit

Noch immer stehe ich unter dem Eindruck des Films "Aus der Zeit". Alte Menschen waren darin zu sehen, Menschen in ihren Siebzigern, Achtzigern. Es fällt mir schwer "alte Menschen" zu schreiben. Es liest sich so verboten, diskriminierend. Sind meine Eltern alte Menschen? Ältere ArbeitnehmerInnen schreibe ich in Aussendungen. Ältere ArbeitnehmerInnen sind in meinem Alter, weiß ich, weil ich Multiplikatorin bin. 40 plus, 45 plus allerhöchstens ist die ältere ArbeitnehmerIn. Und schwer vermittelbar – beruflich und privat. Die Damen im Film waren keine ArbeitnehmerInnen. Chefinnen waren sie, verheiratet mit dem Geschäft. In guten wie in schlechten Zeiten. Bis dass der Tod uns scheidet.

"Zuerst bringen die Nazis dein Vater um, dann heiratest den Knopfkönig", sagt die traurige Königin. Jetzt ist er ein lebendiges Gemüse. Alzheimer. Wie Rilkes Panther läuft sie hinter der Budel hin und her. Ihre Stäbe sind Knöpfe. Das verpasste Leben dauert sie und wohl auch, dass die Mutter recht hatte mit der Warnung vor dem schönen Mann. Sie muss einmal ein süßes Knopfprinzesschen gewesen sein, in das sich der König damals verliebte. Jetzt trägt sie Brokat. Noch immer blond. Sie hat den Laden geschmissen. Sie spreizt die gepflegten Finger. Aufrechte Haltung. Der König hat vier Sprachen parliert und sprechen hat sie müssen. Ein Lehnstuhl, ein altes Radio. Eine Geschäftsfrau, die Privatier sein will. Nicht Panther im Käfig. Und immer wieder der Blick durchs Fenster. Dort wo das Leben vorbei huscht an der Königin. Wie es halt den Königinnen oft so ergeht.

Die kleine Frontsoldatin macht's für ihren Mann. Nicht in Pension, immer im Dienst, die Uniformmütze auf, über die Nähmaschine gebeugt. Schöne Falten, gute Augen, ein verspielter Mund zum weißen Haar. Das Gröbste an der zerrissenen Lederjacke hat sie noch gestern gemacht, sonst hätte sie nicht schlafen können. Es geht um die Jacke nicht um sie, um perfekte Reparaturen und um sein Geschäft. Schon als kleiner Bub. Ledergeruch. Ob er sie je über die abgetragene Schwelle getragen hat, hinein ins einzige Zuhause in Wien? Immer im Dienst, nicht in Pension, weil August das nicht aushalten würde. August, der Krebs, den seine Ahnen zum Weitermachen zwingen. Im Dienst der Vorfahren.

"Herzerl, schau obe auf mi, hast mi allan lass'n", weint der Pepi. Herzerl, die Mama, seine Frau war 54 Jahre mit ihm verheiratet. Gemeinsam haben sie das Linoleum verlegt und vielleicht auch die Casanova-Kassette aus. Charmant ist er der Herr Pepi und hat immer Stollwerk, des mögens die Kunden, und Spanish Leder Seife. Jetzt ist er bei der Mama, hat Harald Friedl erzählt.


"Aufs Altwerden brauchst di nit freuen"
, sagt meine Mutter und meint dann meist Schmerzen. Wohl aber auch den unendlichen Schmerz der Königin, an der das Leben vor dem Fenster vorbei gehuscht ist. Die versäumten Gelegenheiten, das verpasste Leben, das immer nur beim Fenster hereingeschaut hat. Nur selten zugeschlagen, oft betrogen. Trinkgeld fürs Enkerl, für die Kinder, für die Familie. Keine Dankbarkeit und so viel Enttäuschung. Dabei sind sie doch Königinnen. Und keiner will es sehen. Als Aschenputtel hat Mann sie verkleidet und dann war es plötzlich zu spät. Sie hatten den Ball verpasst. Die Wäsche, die Küche, die Arbeit. Japanischer Kleinwagen statt Kürbiskutsche. Crocs statt Silberschuh. Und sie lebten glücklich bis an ihr Ende. Eben nicht. Zwar bis an ihr Ende aber alles andere als glücklich. Irgendwer hat ihr Leben gestohlen.

Und was ist mit den Sommertagen? Dem guten Glas Wein? Dem Lächeln eines geliebten Menschen? Was ist mit den besiegten Drachen und den dummen Prinzen? Dem Linoleum. Rock'n Roll in der Fleischerei und auf der Terasse. Spintisieren in der Werkstätte. Den vielen großen und kleinen Abenteuern? Vielleicht vergisst man all die Feste der Liebe tatsächlich, vielleicht schaut man auch bloß nicht mehr hin. Un-Achtsam. Und dann entgleitet das Leben. Entschwindet nach draußen vors Fenster. Rapunzel muss bloß sein Haar herunter lassen.

"Aus der Zeit" wird noch bis 5. Juli um jeweils 18 Uhr im Filmhaus am Spittelberg gespielt.
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In der Zeit

Da war er plötzlich wieder. All die Jahre hatte ich ihn vergessen. In der Zeit als mein Fenster direkt auf die Gasse ging, konnte ich ihn täglich sehen. Ich saß oft am Fensterbrett, ein Fuß baumelte auf die Straße und er ging vorbei. Seine Kleidung: schwarz und altertümlich. Eine Hut wie eine mittelalterliche Knappenkappe, darunter das weise Haar, kinnlang. Gebeugt am Stock und voll unendlicher Würde. Ein Lehrer, Professor, Meister. Ich musste ihn einfach grüßen und er hat den Gruß lächelnd erwidert. Irgendwann bin ich dann übersiedelt, in eine andere Gasse, in den vierten Stock.

Und dann sah ich ihn gestern im wunderbaren Film. "Aus der Zeit" Im Ledergeschäft Jentsch lässt er eine Tasche reparieren. Einem Ort, wo man entbunden ist von der Zeit, wie der Besitzer, August Jentsc,h vermutet: "Das Gschäft selber ist die Zeit." Und seine Frau Katharina, "Frontsoldat, der auf Ablöse wartet, die niemals kommt", pflichtet ihm bei. Ihm, dem Krebs, der nicht loslassen kann, der das alte Geschäft so gerne in Watte packen möchte, wie seinen ersten Groschen.

Der Lehrer, Professor, Meister hat eine antroposophische Buchhandlung, erzählt mir Harald Friedl, der diesen Film gemacht hat. Wir sitzen in der Creperie am Spittelberg mit Christine und Georg Königsstein, die wunderschöne Bücher machen, und reden. Über den Film, über Wasser und dann noch lange über das Leben und die Welt.

Mir gegenüber sitzt Mr.F und freut sich – der Menschenmittler hat wieder einmal eine Tischgesellschaft komponiert.

Jeder Tag meines Lebens erscheint mir wie ein kostbares Geschenk. Es gibt so viel zu hören, zu sehen, zu spüren, zu schmecken und zu erfahren – in der Zeit und aus der Zeit.

"Aus der Zeit" wird heute und morgen ab 18 Uhr im Filmhaus am Spittelberg gespielt. Bitte anschauen!
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