2
Nov
2010

1. November: Allerheiligen

Nachdem alte Gespenster pünktlich zu Halloween über mich hereingebrochen sind, kam am nächsten Tag wie stets die tränenreiche Versöhnung. Früh am Morgen klopfte die Mutter an meine Tür und entschuldigte sich, der Föhn, das Leben, die Krankheit, des Vaters Tod, seine Familie, die vielen Aufgaben, die Einsamkeit, all das wäre Schuld. Und ist es wohl auch.
Und so entschuldigte ich mich auch und wir vergaben uns. Bleibt doch nichts anderes.

Schützend habe ich mein Netbook all diese Tage auf dem Schoß, halte mich fest an dieser anderen Welt, in der ich derzeit am meisten Halt finde. Stets behalte ich das Netz im Auge bei diesem Drahtseilgang der Gefühle. Im Fernsehen laufen die Soaps, die ihren Nachmittag begleiten: „Verbotene Liebe“, „Marienhof“, „Dahoam is dahoam“. Sie drohnt in ihrem Sessel mit Fußschemelchen. Ich sitze auf der Couch, wie stets mit derselben Schottenkarodecke abgedeckt, die schönen neuen Kissen hinten aufgereiht. Die Decke verrutscht immer, die Polster fallen. Sie beobachtet mich. Hin und wieder streckt sie die Hand nach mir aus. Ganz weich ist sie. Sie erzählt wieder und wieder vom Ringen um Anerkennung und Wertschätzung. Und von der Angst, was mit all dem hier passiert, wenn sie nicht mehr ist, dem wofür sie soviel geopfert hat.

Beim Mittagessen sprechen wir dann von der Vaterfamilie, versöhnlicher ist sie jetzt und lobt ihren Schwiegervater, meinen Opa, den ich sehr geliebt habe. In Osek habe er die Großmutter kennen gelernt, erzählt sie, dass er ein Herr gewesen sei und, dass er sie anerkannt habe und geschätzt. Und dann reden wir wieder über Papa.

Allerheiligen wird für mich immer am Friedhof der Kleinstadt stattfinden. Als Kinder standen wir – Cousinen und Cousins – aufgefädelt wie die Orgelpfeifen am großelterlichen Grab. Manchmal fehlte eines von uns Kindern, weil es mit Vater oder Mutter am Grabe der Schwiegerfamilie war, oft waren wir komplett, spätestens, wenn wir uns nachher am Vorplatz trafen. Im Großen und Ganzen mochte ich Allerheiligen, Familienfeste begeisterten mich das Einzelkind soundso und dieses hatte noch den einen oder anderen Extrabonus.

So durfte ich als Zweitälteste später die Kerzen mitanzünden, bei einem Süßwarenstand vor dem Friedhof bekamen wir türkischen Honig und Maroni, manchmal brachte mein Onkel, der geizige Sparkassendirektor, Geschenke vom Weltspartag mit, irgendwann waren die Erwachsenen betrunken und lustig, man konnte geheimnisvolle Geschichten belauschen, Bierdeckelhäuser bauen, bekam Gasthausessen und oft tollten wir Kinder spät nachts mit Taschenlampen durch die Obstgärten.

Der Preis, den man zu zahlen hatte, waren kalte Füße in ungeliebten Schuhen, eine lange mühsame Zeremonie, die man unter keinenUmständen durch Lachkrämpfe unterbrechen durfte, Schimpf, weil es trotzdem oder deswegen passierte, das Bemühen, traurig zu sein, an die Toten zu denken und sich schämen, wenn man stattdessen, den Vögeln nachsah und Grabsteine las, aufs Klo müssen und nicht können, es nicht sagen könen, weil man vorher gehen hätte müssen, genervte Eltern, Tanten, Onkel, der enge gang zwischen feuchten Pelzmänteln eingepresst und schön anziehen müssen. Der Tag, an dem ich zwar ganz in schwarz, aber mit zweifärbigen Strümpfen – blau das linke Bein, grau das rechte, war das letzte Allerheiligen vor Vaters Tod, an das ich mich erinnere. Die Schande. Ich hatte Liebekummer, unendlichen Liebeskummer.

Ich ließ die Mutter bestimmen, was ich tragen solle. Es zählt ja doch bloß für sie. Ich mag die Kleidung, die sie aus dem Mitgebrachten auswählt und ich mag den Stolz, den sie zeigt. Vaters Grab liegt ganz nah, bei dem der Großeltern, dort stehen Mutter Bruder, der mittlerweile epnsionierte Sparkssendirektor und die – jüngere - Schwester, Mutter des Lieblingscousins. Wie immer verschmälern sich die Lippen der beiden Schwestern, sobald sie einander sehen. Sie mustert mich – „Des hat ihr gfallen“, wird die Mutter später zufrieden zur Kenntnis bringen. Am Nebengrab, alte Freunde der Eltern, auch sie unterwegs verloren, die Kinder, mit denen ich einst gespielt habe, die Tochter mit der Wiesen gallopiert bin von Schicksalssalsschlägen gebeutelt. Die Rosen auf Papas Grab, sein Lachen auf dem Bild, der Boden, der sich senkt, der Föhn, die Berge.

Später dann im Gasthaus das übliche Kräftemessen unter den Geschwistern, mit der Schwägerin, die den Bruder vertritt, der nicht gekommen ist. Wie schon als Kind versuche ich auszugleichen und abzulenken und brause dann im falschen Moment auf und bekomme all die Messer ab, die sie gegeneinander gerichtet hatten. Mein Vater fehlt. Ruhig , freundlich humorvoll mit tiefer Stimme hat er bei diesen oft so boshaften Allerheiligen-Gesprächen für sanften Ausgleich gesorgt. Er mochte Allerheiligen.

Ich bin glücklich als mein Flieger abhebt, nach Hause. Und dann schlage ich hier mit voller Wucht wieder am Boden auf.

shot_1288451934152
552 mal erzählt

31
Okt
2010

Stormy weather

Jetzt ist er also da, der Föhn. Schon seit ich wieder in der fremden Kindheitsheimat angekommen bin, zählt die Mutter seine Vorboten: die Wolken, die klare Luft, die hohen Temperaturen, der Anruf der Schwägerin, die Betrunkenen auf den Straßen, unkonzentrierte Autofahrer und ihre und meine Launen. Jetzt ist er da und stürmt durch Kopf und Seele, rückt die Berge erschreckend nahe und lässt die Mutter Messer wetzen. Böse, schimpft sie mich, gemein und undankbar, schon wieder packt sie die 50 Jahre alten Geschichten voller Hass und Verzweiflung aus, alle Register zieht sie, bis ich aufbrause, letztendlich weine und fliehe.

Schon gestern ist der Föhn über die Stadt und uns hereingebrochen. Gestern also habe ich mich auf die Hungerburg geflüchtet, alleine, die Mutter war zu erschöpft für einen Ausflug mit der neuen Bahn. Und so fuhr ich mit dem Bus in die Stadt, wie ich es zuletzt vor mehr als 20 Jahren gemacht habe, ging den vertrauten Weg zur vertrauten Haltestelle und war doch eine Neue, Andere. Alle sieben Jahre, sagt man ändere sich der Mensch, seien alle Zellen ersetzt, erneuert. Die Erinnerungen bleiben und tauchten auf mit jedem Schritt, mit dem ich die vertrauten Wege abging. Erst unsicher und suchend, dann immer mehr wiedererkennend. Als Kind war die Mutter hier mit mir spazieren, später als Teenager war ich auf der Seegrube Schifahren und noch später saß ich mit dem netten schwulen wohlbeleibten Radiomoderator in der „Frau Hitt“ auf ein Bier. Und dann die Stelle am Inn, wo ich als Mädchen dem Fotografen Modell saß, die Bushaltestelle, wo ich auf den Bus wartete nachdem ich zur Frau geworden war, gleich ums Eck von meinem Kindergarten. Hier ein Plätzchen, wo wir heimlich gekifft haben, dort eines, wo ich innige Küsse getauscht hab und da hab ich geweint.

Abends dann ein Treffen mit der Vergangenheit, mit einer Schulkollegin, ja, Freundin von damals. Vertraute Fremde, wie anders ist mein Leben verlaufen als ihres und doch treffen wir uns da und dort wieder, Frauen in der Lebensmitte eben. Cafe Central, Kellertheater, Landesstudio, all das lässt mich ahnen, wie es gewesen wäre, ich gelebt hätte, wäre ich nicht nach Wien gegangen. Reich beschenkt hat mich das Leben; das ist mir wohl bewusst. Auch wenn die Mock Turtle immer wieder tief drinnen ihr pathetisches Klagelied anstimmt, in das ich oft zu gerne einstimme, mein Leben ist voll von Geschenken und Wundern.

In der Nacht hat dann der Föhn am alten Haus geruckelt, gezerrt, auch an den Nerven, an der Kraft und heute morgen brach dann der Hass hervor, stürmisch und böig, wie der warme Fallwind, der mich, uns taumelnd macht, fallen lässt, verfallen. Und plötzlich ist das kleine Mädchen wieder da, die kleine Turtle mit ihrem großen Schmerz und weil die Mutter nur mehr mit Worten zuschlägt, schlägt sie sich selbst mit Händen. Nur mehr bis morgen Abend muss ich hier bleiben, dann darf ich zurück in mein Leben, in dem doch jetzt auch nicht zuhause bin, in dem ich mich gerade eben neu einrichte. Stürmische Zeiten.

shot_1288445734147
739 mal erzählt

26
Okt
2010

Full Body Talk

Gierig trinke ich das Leben. Freitagnachmittag die zweite Kampf-Kunst Stunde. Zwar stellt sich wieder das ungeschickte-Mädchen-Gefühl ein, wenn ich mich anstelle wie die kmische Nummer im Ballett. Zu viel Kopf, zu viel Spiegel, links und rechts, uff. Und die Angst die freundlichen fremden Trainingspartnerinnen zu nerven mit eben dieser Ungeschicklichkeit, zu verletzen, weil ich viel zu viel Kraft in das Aneinandervorbeigleiten lege, so das es zum Rempeln wird. Tollpatschig, im wahrsten Sinn des Wortes. Und dann doch wieder die Momente, wo es fließt und mich der Rhythmus führt und der Schweiß und die Kraft und das Lächeln in den Augen gegenüber.

Zuhause dann die Schwiegercousine auf Psychologieseminar ein eigenes Problem im Gepäck. Ganz ärgerlich ist sie über eine große Chance, die sich ihr bietet, traut sich im Beruf all das nicht zu, was sie privat so gut beherrscht, hat Angst vor den Möglichkeiten. Es macht Spaß ihren Blick auf die Habenseite zu lenken, sie aus der Reserve zu locken, ihren Kampfgeist zu wecken, fast wie das Spiel der Fäuste, nur gleitender, seltener grob, Trainingspartnerin.

Und um Mitternacht im Planetarium. Der Club feiert Geburtstag und Abschied. Bei all den schönen Frauen schon im Foyer, zweifle ich kurz, ob ich richtig angezogen bin. Ein Kleid, schlicht grau-schwarz, eng mit durchgehendem Reißverschluss, knapp über Knie kurz, ein wenig Dekolletee langärmlig mir hohen, schwarzen Schnürschuhen. Der Erstgeborene legt bereits auf und die Musik erfasst meinen Körper. Ich tanze, tanze, tanze, die Schuhe schmerzen, die erst am Nachmittag so beanspruchten Muskeln ebenfalls, der Schweiß fließt, aber die Musik erfasst mich Song für Song von neuem reißt mich mit bewegt meinen Körper. All die schönen Menschen, gierige Blicke, Körper, die im Takt von Soul, Funk, R&B zueinander sprechen, einander lieben, ohne sich zu berühren. Ohne zu berühren, muss ich mehrmals klar stellen, denn die Männchen reiben sich an mir, ich genieße auch das. Da und dort vertraute Gesichter, Wohnzimmergeschöpfe, Soulkinder, Tanzpartner, Trinkgefährten, Freundinnen aus anderen Welten. Fixstern im Planetarium und im Morgengrauen nach Hause, dort wo die Welt aus der Achse ist.

shot_1287791176074
471 mal erzählt

25
Okt
2010

Soulkinderstube

Vielleicht tatsächlich ein Journal führen, tägliche Einträge, wie bei Frau Koma, der Lesenswerten, das Leben wiegen, während man es lebt und nicht die Momente schilderbarerer Lust und Qual in Worte gießen und die kleinen kostbaren Wirklichkeiten im besten Fall zwischen die Seiten eines Notizbuchs quetschen oder mit der winzigen Tastatur ins Handy klopfen. Unübertragbar. Journalismus ist mein Geschäft, dort trag ich meine Sprache zum Markte, die Schere im Kopf eines der Werkzeuge, ungeliebt, Silikon für ethische Lücken, damit die Silberfischchen des schlechten Gewissens ersticken. Zum Besten. Immer zum Besten. Vielleicht also demnächst auch täglich hier. Freiwillige Selbstkontrolle.

Mittwoch war dann endlich wieder Freitag. Der Erstgeborene und ich beschließen mit dem Weinen aufzuhören und wieder zu lachen. Ein Elfengeschöpf stößt zu uns, ein Soulsugar-Kind aus der Sammlung des Erstgeborenen – „mein Mentor“ nennt sie ihn. Große Augen, wirres Haar und einen erschreckend dürren Körper hat sie, die plappernd ins Zimmer wirbelt. Freundlich stellt sie sich vor und an die Nennung ihres Namens schließt sie gleich eine lange und komplizierte Rechtfertigung für diesen. Benn fällt mir ein. Ständig entschuldigt sie sich, erklärt ihre Worte, ihr Handeln mit einem Redeschwall die Hände mit den langen dünnen Fingern reden mit, vor der knochigen Brust gekreuzt..

„Wie eine Elfe auf Speed“, denke ich mir, doch das sei nicht ihre Droge, betont sie später in einem anderen Monolog. Ich bringe ihr Kürbissuppe und dränge ihr Brot auf, das Kind ist doch so mager. „Das hast du gebacken und gekocht? Du bist also so eine richtige FRAU“, sagt sie. Der Erstgeborene lacht: „Nicht immer.“ Das freut mich.

Ich sitz am gelben Sofa, erste Reihe fußfrei. Manchmal stellt sie mir eine Frage. Die Antworten interessieren sie nicht wirklich. D-Jane ist sie, Artistin nennt sie es, Bürgerkind wie ich, der Name bekannt aus der Radiowerbung. Sie war mal im Fernsehen beantwortet sie meine diesbezügliche Frage und weist mit der Hand auf die Stelle, an der sie Soulsugar tätowiert hat. Zwei Handbreit über jener Stelle, die ihren Künstlernamen bezeichnet, heiß heiße der Zuname auf Spanisch, ergänzt sie und dabei bleibt es zu jenem Thema. Ich muss schmunzeln, weil ihr Künstlername weit mehr Erklärungsbedarf hätte als der eingangs genannte.

Das Kind, das sich nur sehr dunkel an Zeiten des Anrufbeantworters erinnern kann, versinkt in Kisten mit Vinyl, das älter ist als seine Eltern. Wir könnten seine Eltern sein. Es weiß genau wie wir Soulpeople sind. Ich weiß nicht, ob ich zu diesem wir gehöre, sie wohl auch nicht. Der Erstgeborene hält Hof im Wohnzimmer.

„Wir rauchen auf hohem Niveau“, erklärt der Gastgeber dem Mädchen,
„Wir trinken auf hohem Niveau“, ergänze ich.
„Wir hören auf hohem Niveau.“
„Wir scherzen auf hohem Niveau.“
„Wir reden auf hohem Niveau.“
Rehauge bleibt wachsam; und dann der Erstgeborene: „Aber wir lieben unter jeder Kritik.“
Das Kind lacht mit. Dann hört es Schallplatten, das Kind wird kaufen.

Immer kostbare Begegnungen im Wohnzimmer.

Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden,
woher das Sanfte und das Gute kommt,
weiß es auch heute nicht und muß nun gehn.


shot_1287608577966
530 mal erzählt

17
Okt
2010

Body-Talk

Auf meinen Körper kann ich mich verlassen, er versteht es zu somatisieren. Damals etwa, als die Mock Turtle ihre Bühne im Beisl hatte. Sie fühlte sich voll Begierde angestarrt und doch nicht wahr genommen. „Nothing but a pretty face“, hämmerte es in ihrem Kopf an manchem Morgen danach und „Ich muss meine Haut retten.“ Bis sie dann mit dieser Schildkrötenhaut an der Stirn erwachte, gar nicht pretty und die Augen, die zu (ver)zaubern verstanden, die gerne Dinge versprachen, die die Turtle nicht halten wollte, versanken unter rauen und schuppigen Lidern. Wer sich nun für mich interessierte, interessierte sich für mich. Meine Haut rettete mich.

Oder damals, als der Job die Mock Turtle ankotzte, die Scheinheiligkeiten, die Gemeinheiten, die Kälte, der Verrat. Da erwachte sie fast täglich im MorgenGrauen mit diesem bitterscharfen Geschmack im Hals und erbrach grünliche Galle. Und auch später schlug mir manches auf den Magen, anderes war schlicht zum Scheißen. Als ich mich nicht mehr begehrt fühlte, versiegte der Rhythmus meiner Weiblichkeit. Heuschnupfenanfälle dämpfen meine Sinne. Die Mock Turtle zieht sich in ihren Schildkrötenpanzer zurück. Die Augen jucken, die Nase ist verstopft, nimmt keine Gerüche mehr wahr, der Mund kribbelnd, beißend, dem Geschmack verschlossen. Ich muss mich nach innen wenden, das Außen wird unzugänglich, das Innen in einem Nebel aus Rotz und Tränen abgeschirmt. Und dann das Niesen, lautes, gewaltsames, zwerchfellerschütterndes Ausatmen, das die Ohren verschließt und die Muskeln kontrahiert. Allergie ist eine Abwehrreaktion des Immunsystems.

Jetzt, da ich an so vielem zu kauen habe, da ich emotional am Zahnfleisch gehe, ist es der verfluchte Zahn. Natürlich bin ich selbst verantwortlich; Trägheit beim Putzen, mehr Achtsamkeit auf die Zähne gelegt, die offensichtlich der Welt entgegen lachen und nur flüchtig die bedacht, die im Dunkel verborgen schwerer erreichbar sind. Das kleine Loch dort hinten kennt meine Zunge schon länger. Mehr als einmal hat sie den ziehenden Schmerz ausgekostet, der entsteht wenn sie sich gegen die Zahnwurzel drückt. Dann bemühte ich mich wieder beim Putzen, die Stelle beruhigte sich, falscher Alarm. Vor gar nicht langer Zeit war ich bei der Mundhygiene, Flecken entfernen, Lebensspuren verwischen, das Lächeln polieren. Ich hab gehofft, dass das kleine Loch dabei entdeckt wird, gesagt hab ich nichts, ganz „mündige Patientin“. Zuviel Angst vor einer Wurzelbehandlung, davor dass der Zahn gerissen werden muss, den Schmerzen, dem Aufwand, den Kosten, dem bleibenden Schaden, Trennungsschmerz. Also hab ich zugewartet, hab den Schmerz weiter genutzt, um zu fokussieren, weil eben nie zwei Schmerze gibt, sondern immer nur einen, an dem man sich festhält.

Freitagabend dann setzt sich der Schmerz endlich durch. Von der Seele, dem Kopf, dem Herzen, von seiner dumpfen Alllgegenwart bündelt er sich scheinbar an jener Stelle in der Mundhöhle.
Samstagvormittag sitzen acht Menschen im Warteraum des diensthabenden Zahnarztes, die Schmerzen verbünden uns, wir sind freundlich und geduldig miteinander, drücken der sonnig blonden Zahnarztassistentin – meine Mutter war das auch einmal – die E-Card in die Hand, füllen Anamnesebögen aus , gehen zum Röntgen, es geht schnell und still und ich lese „Zahnarzt“-Magazine, heische auf Facebook um Mitleid und vertiefe mich im mitgebrachten Buch. Der dicke Klischeewiener neben mir, flirtet wohl und kurz frage ich mich, welcher der wenigen verbleibenden Zähne in seinem breiten Lächeln wohl weh tun könnte. Er hat Probleme mit dem „ungeduldigem Menschen“, der ihn chauffiert, wie er mir mitteilt, nachdem wir alle es schon in einem Telefonat gehört hatten. Die altmodische Art der Mitleidsheische.

„Komplett vereitert“, stellt der hübsche Zahnarzt fest. Wie gut aussehend all diese Zahnärzte sind, denke ich keine dicken, grauhaarigen Herren wie in meiner Kindheit. Als reich galten sie immer, jetzt sind sie auch noch schön. Und er entdeckt ein tiefes Loch bis weit in die Wurzel. Im Moment ließe sich nichts machen, zu vergiftet vom Eiter verschwollen seien der Zahn, das Kiefer; der ganze Mund, alle Zähne, möchte es mir scheinen. Der Zahn muss raus, dann wenn die Schwellung weg ist, er verschreibt mir Schmerzmittel, Antibiotika, Mundspülung. Wie eine Amputation, dachte ich vor kurzem. Ein Zahn der gerissen werden muss, ein Stück von sich, das man hergeben muss, das fehlt, das ersetzt werden kann, ein Zahn nur.

shot_1281469724075
1143 mal erzählt

10
Okt
2010

Herdflucht

Eben zur Wahl geschritten: wie verhältnismäßig einfach ist es, seine Stimme für ein kleineres Übel abzugeben, im Vergleich zu Entscheidungen auf anderen Ebenen. Dort bedeuten sie, das Schwert aus der Scheide zu ziehen, Schnitte zu setzen und zu verletzen. Doch da wie dort gilt es Verantwortung für das eigene Leben anzunehmen.

Als ich den Hof des alten AKH betrete, wo ich mich hin fliehe, um im Rest der Oktobersonne Ruhe und Worte zu finden, sehe ich zwei Männer den Weg entlang kommen, Stangen in den Händen, der eine rollt eine Weltkugel mit seinen Füßen vor sich her. Wie ein Zeichen scheint die Szene, aber sie hat nichts zu bedeuten. Ebenso wenig wie das warme Lächeln der Frau, die mir am Weg entgegen kommt.

Gestern um diese Zeit habe ich meine Hände in Teig gegraben. Im weichen warmen Germteig habe ich all die Trauer, die Schmerzen, die Ängste, den Hunger, die Sehnsucht, die Geilheit, die Liebe verarbeitet. Es treibt mich an die Feuerstelle, den Herd. Wie besessen schäle ich Äpfel, schneide Gemüse, komponiere Gewürze. Kürbissuppe und Apfelstrudel und Carta da Musica und kleine knusprige Foccaccias, die er gerne mag. So gebe ich, was ich anders nicht geben kann, mag. Immer ein wenig süß, immer ein wenig sauer und Chili. Ich, die nie Kinder wollte, in der Rolle der Nährmutter.

Das Kochen gibt mir Trost und Wärme. Es hilft, die Zwiebel präzise zu schneiden und Avocados zu würfeln, durch die Küche zu wirbeln auf der Suche nach Zutaten. Da fehlt noch Salz, dort würde Ingwer passen. Wir brauchen Wärme. Das alles lenkt ab von den quälenden Gedanken, die mich vor den Schirmen und auf den Wegen anfallen, die nicht zu Ende gedacht werden können und daher kreisen, kreisen, kreisen. Sie hören auf, wenn die Hände im Teig versinken, sich durch die weiche Masse graben, wenn sie verraten, dass es gut wird, weil ich alles richtig gemacht habe und wenn die 100 Jahre aus dem CD-Player tönen. Das Projekt des Erstgeborenen verleiht mir Abstand zur Gegenwart und meinem kleinen Leben. Das kann der geliebte Soul jetzt nicht (Farewell Solomon Burke), Soul legt den Finger auf die Wunde, die Helden auch. Also Freddy und Frauengold. Und kneten und schneiden. Und dann entsteht etwas und es schmeckt. Zuviel von allem wir können es nicht essen, nicht schlucken, nicht verdauen. Zugeschnürte Kehlen. Ich verschenke, friere ein, bemühe mich die Suppe auszulöffeln , die ich mir eingebrockt habe.

Die Liebe auf Vorrat einkochen, geht mir durch den Kopf, der Winter kann sehr kalt werden.

Kueche
885 mal erzählt

8
Okt
2010

Über die Scham...

shot_1286018922265
1628 mal erzählt

1
Okt
2010

U2 und Helden

Gestern in der U2 auf dem Weg zum Zweitarbeitsplatz, auf der Flucht vor so vielem; „Wir sind Helden“ im Ohr, Dornen im Hals, Trauer im Herzen und Tränen in den Augen.

Er muss es gespürt haben, ein hübscher Bursche, dunkelhäutig, ein sympathisches offenes Gesicht.
„Ich arbeite für dich“, schreit er mich plötzlich an: „Du lebst von meinem Geld.“
Ich nehme die Kopfhörer aus den Ohren und schau ihm in die Augen.
„Ich arbeite für dich, damit du leben kannst.“ Ich nicke; ich wundere mich nicht, sehe nur seine Augen und fühle seinen Schmerz.
„Weißt du wie verbittert du aussiehst?“ fragt er mich und ich weiß es.
„Zwei mal hab ich dir das Leben gerettet…“
Er meint nicht mich, er meint eine andere, wird mir erst jetzt wirklich klar und da löst er den Blick, macht sich bereit zum Aussteigen.
„Ohne mich wärst du krepiert“, er dreht sich noch einmal um: „Adrenalin haben sie dir gespritzt…“
Dann verschwindet er ohne sich umzudrehen in der aussteigenden Menge.

Alle starren mich an. Schräg gegenüber sitzt ein junger Mann in grauer Arbeitsmontur, der hebt den Kopf: „I hab zerst dacht, der geht mi an. Dem hätt i…wenn der ihnen was tan hätt, i wär sofort aufgsprungen. Der war auf Drogen.“
"Ich hab ihm in die Augen gesehen“, sage ich, dann setze ich die Kopfhörer wieder auf. Da ist nichts, was wir tun könnten….


shot_1281354032518
1043 mal erzählt
logo

Mock Turtle

Sit down, both of you, and don't speak a word till I've finished

Who sits there?

Du bist nicht angemeldet.

Im Bilde

shot_1289507984495

Soundtrack

Aktuelle Beiträge

Gruß nach drüben
Der Vater - der großartige Walter Deutsch ist am 13....
katiza - 18. Feb, 16:53
Wenn ich schon geahnt...
dass ich an jenem Zuhause angekommen bin. Ich liebe...
katiza - 22. Feb, 15:42
Nach dem Text fürn Wolf...
Nach dem Text fürn Wolf musste ich schnell diesen nochmal...
viennacat - 14. Aug, 18:30
Danke für Worte die nur...
Danke für Worte die nur von Dir sein können ...
viennacat - 14. Aug, 18:27
Soooo schön und berührend....
Soooo schön und berührend. Danke!
testsiegerin - 14. Aug, 15:07

Es war einmal…

Gezählt

Meine Kommentare

Gruß nach drüben
Der Vater - der großartige Walter Deutsch ist am 13....
katiza - 18. Feb, 16:53
Wenn ich schon geahnt...
dass ich an jenem Zuhause angekommen bin. Ich liebe...
katiza - 22. Feb, 15:42
Alle Kraft für ihn!
Alle Kraft für ihn!
froggblog - 10. Sep, 11:46
.
.
datja - 18. Jul, 18:34
Lieber Yogi, ein bisschen...
Lieber Yogi, ein bisschen frivol der Geburtstagsgruß...und...
datja - 5. Jul, 14:19

Meins

Creative Commons License
Dieser Inhalt ist unter einer Creative Commons-Lizenz lizenziert.

Augenblicke

www.flickr.com
Dies ist ein Flickr Modul mit Elementen aus dem Album Ausatmen. Ihr eigenes Modul können Sie hier erstellen.

Suche

 

Status

Online seit 6985 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 18. Feb, 16:53

Credits

kostenloser Counter




...und wartet...
*.txt
An- und Verkündigungen
Augenblicke
Aus dem Schatzkästchen der Mock Turtle
Bilanz
Cinematograph
Der Salon der Turtle
Freitagsfrüchte
Fundstücke
Homestory
In Reaktion
Journal November 2010
La Chanson
Lebens-Wert
Logbuch
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren

kostenloser Counter