1
Nov
2007

Spiegelsuite

Er war ein kluger, deutscher Jung. Sohn eines Universitätsprofessors, Hamburger Bürgertum, eine gute Familie, vielleicht sogar adelig, viel Buddenbrooks in der Luft, Intellektuelle, Bildungsbürger. Piefke zwar, aber keine lauten. Bereit sich den Tirolern anzupassen, nur sprachlich nicht. Hochgewachsene Menschen, etwas blutleer. Der Sohn intelligent, näselnd, ein wenig affektiert, ein wenig spießig, ein wenig Streber, uncool und pubertierend-geil, die Tochter, zwei Jahre älter, lieblich und doch smart, fast wie aus wie die Mädchen, in den amerikanischen Serien, die wir damals noch nicht sahen. Später dann in der Kosmetikbranche. Wir tranken Gspritzte und Rotwein und fühlten uns als Existentialisten. Er war bieder, die Mock Turtle schon ein schlimmes Mädchen, wenn auch mit klassischem Anstrich, erste Theaterkontakte. "Die Hölle das sind die anderen". Er hatte schrecklich viel gelesen. Ich auch.

Ich liege mit geschlossenen Augen auf der Hofgartenwiese. Ganz im Panzer zurückgezogen. Irgendjemand klimpert "The Boxer" auf der Gitarre. Achtklassler, steht auf eine Freundin. Ich rauche. Zu sehr Sommer fürs Kaffeehaus oder wegen Renovierung geschlossen. Plötzlich näselnd eine Gegenwart mit spitzem, Hamburger S: "Hast du Kierkegaard gelesen? Tagebuch eines Verführers?" Da wusste die Mock Turtle, dass er verknallt war. Und dass er keine Chance hatte.

Im Herbst dann drei Tage Wien – Toleranzgespräche – wir waren auserkoren, drei G'scheiterln aus der Schule: der tiefkatholische Sohn des Altersheimdirektors, der Jung und die Mock Turtle. Sir Karl Popper sprach und Jeanne Hersch, Zürich brannte, wir feierten endlose Zimmerparties im Europahaus und tranken billigen Wein, waren im Bermuda-Dreieck und im U4. Ich und drei, vier schlaue Kerlchen aus ganz Österreich. Der Jung immer dabei. Intellektuelle Balzkämpfe. Hirnweitwichsen. Dalli Dalli. Möglichst viele Autoren. Keine Männer, bloß intellektuelle Buben, schwitzend, pickelig und geil. Ich das einzige Mädchen. Ein jeder wollte der Steppenwolf sein und ich sollte ihre Hermine sein. Dafür bekam ich rote Rosen im Roten Engel. Der Sohn des Altenheimdirektors blickte mich beim Frühstück besorgt an.

Am Tag sprachen dann die großen Geister in der Akademie der Wissenschaften weise Dinge, die wir in der Nacht mit Camus und Hesse zu verstehen versuchten. Der alte Otto Schulmeister moderierte intolerant. "Sind Sie Österreicher?", fragte er den jungen Mann mit der dunklen Hautfarbe, der sich zu Wort meldete. Ich war empört, und hatte gleich ein wenig weniger schlechtes Gewissen, dass ich weite Teile der Diskussion verschlief oder schlicht nicht verstand. Ich durfte das, ich war Hermine, ich war ein schlechtes Mädchen.
Den letzten Tag verbrachte ich Händchen haltend mit einem 80-jährigen Pfarrer, der in Brasilien lebte und mit Hilfe eines mitgebrachten Kassettenrekoders den Donauwalzer spielen wollte. "So eine Veranstaltung muss mit Musik ausklingen." Wir wurden Freunde und ich hab ihm nie erzählt, dass ich an seinen Gott nicht glaube. An keinen – Atheistin, Existentialistin, aber/und tolerant. Zu wenig Hermine. Er hat einmal eine Hausmesse mit meinen Eltern und mir gefeiert. Diskret hat er uns durch die Riten geführt, die uns doch allen dreien irgendwie fremd waren. Mein Elternhaus ist nicht sehr katholisch. Und doch waren sie stolz auf mich und meinen Priesterfreund mit der großen Marienliebe.

Ich trank und flirtete und ließ mich anfassen von dem Jung. Und dann ließ ich ihn leiden. Er küsste zu nass und hatte lange dünne, ungeschickt Finger, er sagte die falschen Sätze, schaute zu bettelnd und ich wahrscheinlich wollte ich ihm nicht zugerechnet werden.

"Du bist doch nur ein Spiegel mit hübschem Rahmen", zischte er mir über den Tisch im Stadtcafe entgegen: "Du hast doch gar keine eigene Persönlichkeit, du spiegelst nur." Ich war verletzt. Ich wollte Persönlichkeit sein, kein Spiegel. Und quälte ihn noch mehr. Andere auch und am liebsten die schlauen Kerlchen. "Ich aber liebte den Narziss, weil ich in seinen Augen meine Schönheit sah, Oscar Wilde", stand in lila Tinte auf einem weich gelesenen Zettel in meiner Geldtasche. "Aber wissen ob man seine Leidenschaften leben kann, wissen, ob man ihr tiefstes Gesetz – nämlich das Herz zu verbrennen, das sie gleichsam in Begeisterung versetzen - akzeptieren kann, das ist die Frage. Camus" stand auf einem anderen Zettel, Kugelschreiber.

Der Hamburger Jung ist Anwalt in Frankfurt. Der Sohn des Altenheimbesitzers ist in letzter Zeit öfters im Fernsehen und immer noch streng und gerecht. Sir Karl Popper lebt in seinen Worten Jeanne Hersch ebenso. Den Kontakt zu dem alten Priester habe ich abreißen lassen. Irgendwann dann wohl auch den zu Hermine. Und Ich bin nur ein Spiegel.

"Wir gewöhnen uns ans Leben, ehe wir uns ans Denken gewöhnen. Mythos von Sisyphos", steht im Schatzkästschen der Mock Turtle. Microsoft Tastatour, schmutzig.

Ach ja, Danke Dr. Schein.
1265 mal erzählt

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walhalladada - 3. Nov, 16:42

Liebe Frau Katiza,
ich wüßte im Ernst nicht, was ich mit der wunderbaren Intensität Ihrer Erinnerungen zu tun habe...?
Vielleicht doch..., aber mir danken...? Nein, danken tue ich!

katiza - 3. Nov, 20:10

Sie waren einfach Schein des Anstoßes...
walhalladada - 3. Nov, 20:29

Das bin ich natürlich sehr gerne :-))
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Sit down, both of you, and don't speak a word till I've finished

Who sits there?

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