12
Jul
2010

Wiedersehen

Er war die erste große Liebe der kleinen Turtle, ihre Kinderliebe. Der hübscheste Bub in der ganzen Volksschulklasse, groß mit dunklen Haaren, braunen Augen und einem strahlenden Lächeln. „Haifischflossensuppe“ nannte er als seine Lieblingsspeise, als in der Schule danach gefragt wurde, „Weinbergschnecken“ waren es bei der kleinen Turtle – dermaßen kuriose und zugegeben kapriziöse Leibspeisen in der ländlichen Schule, wo alle anderen von Schnitzel, Palatschinken, Spaghetti und Pommes Frites träumen, verbanden.

Er ist doch tatsächlich Koch geworden, der kleine Junge mit Appetit auf Haifischflossensuppe. Und gar kein schlechter, wie mir das Internet - kurz nachdem er mich vor zwei Jahren dort wieder gefunden hat – mitteilt. Er hat sich durch die Welt gekocht von Absam nach Frankreich und über New York schließlich nach Lateinamerika. Manchmal unterhalten wir uns auf Skype. Er gibt mir Kochtipps.

Die kleine Turtle träumte keine Vater-Mutter-Kind-Träume, sie spielte nicht mit Puppen, sie war ein wildes Mädchen und verlieh ihrer Sehnsucht in Raufereien und Schlachten im Kartoffelacker Ausdruck. Zum General der Buben stilsierte sie ihn hoch, als Piratenkönigin sah sie sich in ihren Träumen mit ihm kämpfen, erst gegen ihn und dann an seiner Seite. Wie ein Bub raufte sie, ohne Zwicken und Kratzen und vor allem ohne ein Zeichen des Schmerzes – auch damals nicht, als Weidenruten auf ihren Wadeln landeten. Süße Tapferkeit.

Wir haben länger kaum geschrieben, sind selten gleichzeitig online. Vor zehn Tagen leuchtet seine Name wieder bei Skype auf. Auf Heimaturlaub in Tirol sei er, läßt er mich wissen. Ich auch, antworte ich. Ob wir uns dann nicht treffen könnten auf einen Kaffee? Klar, warum nicht. Die Stimme am Telefon am nächsten Tag klingt fremd, seine Erwachsenenstimme habe ich nie gehört.

Abends lief Odysseus im Fernsehen – eine Serie, faszinierend wie die Griechen- und Heldensagen, die die Kleine Turtle damals schon verschlang. Das wollte sie inszenieren, das kleine Mädchen in der vierten Klasse Volksschule und er, er hätte ihr Odysseus sein sollen. Welche Rolle sie übernehmen wollte, war ihr nicht ganz klar. Vielleicht die der Circe, bloß Frau zwar, aber mächtige Zaubererin.

36 Jahre sind eine lange Zeit und am Weg zum verabredeten Treffpunkt wird mir ein wenig mulmig. Aus dem Kaffee ist eine Verabredung zum Essen geworden. Ich bin zu früh dran und spaziere langsam an Auslagen vorbei. Wie seltsam, während meiner Besuche bei meiner Mutter gelingt es mir nie Freunde oder Freundinnen aus Kindheit und Schulzeit zu treffen. Wenn ich durch die Straßen der Provinzstadt gehe, sehe ich keine vertrauten Gesichter und plötzlich will ich mit einem den Abend verbringen, den ich 36 Jahre nicht gesehen hatte.

Und dann kam es, wie es kommen musste. Die kleine Turtle und ihre große Liebe wurden vom Schicksal getrennt: Nach der Volksschule besuchten sie zwei verschiedene Schulen, nicht einmal im Bus konnten sie sich treffen, er fuhr mit der Dörferlinie D oben im Dorf, sie mit der Linie 4. Sie dachte noch lang an ihn. Im Dachbodenparadies ihrer Kindheit hingen zwei Zeichnungen, die er ihr geschenkt hatte, ein Reiher und der Haller Münzturm. Sie hielt noch ein Weilchen nach ihm Ausschau, fuhr auch hin und wieder mit dem anderen Bus. Einmal traf sie ihn bei einem Volleyballmatch in der alten Schule. Es kribbelte, aber sie blieben sich fremd.

Ich bin noch immer zu früh und suche im Gastgarten nach einem, der mir irgendwie vertraut erscheint. Würde ich ihn erkennen? Er mich? Am suchenden Blick vielleicht und daran, dass man an einem lauen Sommerabend nicht allein am Tisch sitzt. Schließlich wähle ich einen Platz mit gutem Überblick. Ich erkenne ihn sofort, als er durch den Torbogen kommt. Noch immer groß, dunkel, schlank, noch immer lächelnd – er winkt mir.

Hin und wieder hatte er auch den anderen Bus genommen, gestand er und jener Blickkontakt beim Volleyballmatch hatte ihn ebenfalls elektrisiert. Auf die Firmung hätte er sich so gefreut, erzählte er, da würde er mich wiedersehen, war er sich sicher, in der Pfarrkirche im kleinen Dorf. Und so hatte er zum ersten Firmunterricht die coole Jacke angezogen und die Sonnenbrille und mit dem Zehngangrad war er gekommen, um zu imponieren. Mich haben sie im Dom gefirmt mit anderen Bürgerkindern. Da hatte ich seine Zeichnungen schon von den Wänden genommen.

Es fühlt sich tatsächlich wie ein Wiederfinden an nach all den Jahren, ohne Peinlichkeiten, ohne Verlegenheit, ohne Stress und neben der ersten kleinen großen Liebe begegnet mir auch das Mädchen wieder, das ich einmal war. Am nächsten Tag fliegt er zurück in seine neue Heimat, weit weg. Mir bleibt ein besonderer Abend und das Wissen, dass all meine Lieben – von der allerersten angefangen - „richtig“ waren.

Unter denen, die ich geliebt habe, ist niemand, mit dem ich nicht gerne noch immer einen Abend verbingen würde. Ich bin stolz und glücklich, sie in meinem Herzen und meinen Armen gehabt zu haben. Ich freue mich über alles, was ich von ihnen nehmen und lernen durfte. Und irgendwie werde ich sie alle ewig lieben.

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