5
Aug
2010

Ehrenwerte Besucherinnen, geschätzte Besucher,

Jetzt spielt's Granada:



In spätestens 12 Stunden wird mir so manches spanisch vorkommen - ich verabschiede mich in Richtung Siesta,

stets Ihre Mock Turtle

2010-08-01_23-02-30_615_Wien
990 mal erzählt

Mutter:Liebe

„Und dann hat mich deine Mama rausgeworfen.“ Sie war die beste Freundin der ersten zehn Lebensjahre. Wir waren unzertrennlich und haben uns geliebt, zwei kleine Mädchen, die zusammen spielten, Geheimnisse teilten, ja sogar gemeinsam auf dem Klo saßen. Jetzt ist sie eine schöne Frau, hat selbst drei Kinder, die mich begrüßen, als wäre ich ihnen schon längst vertraut. Sie wissen, dass ich eine Bücherratte war und dass mir ihre Mutter von meiner Mutter immer als leuchtendes Vorbild hingestellt wurde, weil sie so sauber war und ordentlich, nicht verträumt, wild, chaotisch, mit stets schmutzigen Fingern wie ich. Das mit dem Rauswurf wissen sie hoffentlich nicht. Ich wusste es nicht – all die Jahre, die ich die Vertraute so vermisst habe, all die Jahre bis sie mich wiedergefunden hat. Ich schaue sie mit großen Augen an, wir sitzen uns gegenüber im Fischrestaurant. Eigentlich wollte die Mutter mitgehen an diesem Abend, aber dann war sie doch zu müde und ließ mich mit der Freundin alleine ziehen.

Sie brauche nicht mehr zu kommen und anzurufen auch nicht, habe sie der Zehnjährigen erklärt. Die kleine Turtle ginge jetzt aufs Gymnasium und habe andere Freundinnen, besser passende. „Und das war nicht der erste Rauswurf, aber an den habe ich mich gehalten“, sagt die Freundin, deren Hand ich drücke. Wir weinen. Ich bin fassungslos. Ich schäme mich, für meine Mutter und auch ein wenig für mich, weil ich nicht um diese Freundschaft gekämpft habe, weil ich nicht weiter den Kontakt gesucht habe. Ich versuche mich zu erinnern, wie es war die Freundin zu verlieren.

In der Arbeitersiedlung nebenan habe ich als Kind viele schöne Stunden verbracht, wohl ein paar der schönsten. Ich fühlte mich wohl in den kleinen Wohnungen mit den Kohleöfen und den Klappbetten, mit Zeichen des erarbeiteten Wohlstands der späten Sechziger Jahre: Großen Puppen in gehäkelten Kleidern, venezianischen Gondeln, Souvenir vom Jesolo-Urlaub, aus Bibione, vom Brennermarkt. Kelomats und Fädenlampen. Ich habe als Kind dort Kekse gebacken mit Kochmütze und Schürze. Ich mochte das Leben und die Menschen in diesen Wohnungen, Männer, die mit flüssigem Eisen an Hochöfen arbeiten, weiche Frauen in Kittelschürzen. Ich mochte es durch Stiegenhäuser zu tollen und sich an den Knien von Teppichstangen hängen zu lassen. Ich war dort glücklich, vielleicht sogar glücklicher als im Haus nebenan. Dann zog die Freundin weg in eine andere, neue Siedlung in den neuen Ortsteil. Auch dort besuchte ich sie gerne, ihre Mutter briet uns „Arme Ritter“, wir hörten Schallplatten wie „Ein Abend auf der Heidi“ und kicherten. Und irgendwann war das nicht mehr.

In dem Fotoalbum, das ich mitgebracht hatte, um ihren Kindern Bilder aus der gemeinsamen Zeit zu zeigen, rutschen Fotos der anderen Freundin, der besser passenden, Anwaltstochter wie ich. Viel Bemühen steckte in dieser Freundschaft, wirklich innig wurde sie nie und es blieb schwierig mit den Mädchenfreundschaften. Die beste Freundin ein Laben lang hätte ich mir manchmal gewünscht. Mit der anderen Anwaltstochter bin ich auf Facebook befreundet. Kein weiterer Kontakt. Und noch eine Freundin war da in den Jugendjahren. Hallerin wie die Mutter und von dieser zwischen geduldet und vereinnahmt. Weit weg, so oder so. Unachtsam habe ich viel Menschen verloren.

Auch die vielen Freunde der Eltern fallen mir ein, die eine Zeit lang mein Leben intensiv begleitet haben und dann verschwunden sind. Weil sie dem strengen Urteil der mutter nicht mehr genehm waren? Nicht passend? Ich fühle mich bestohlen. Und auch da das alte Gefühl von Scham. Und Vermissen. Und Sehnsucht. Und Haß.

Spät nachts ruft die Mutter am Handy an, weil ich noch immer nicht zu Hause bin. Sie meldet sich nicht. Der stumme Anruf ist ihr Zeichen genug. Ist auch mir Zeichen genug. Ich dränge die Freundin zum Aufbruch. Wir trinken aus. Ich versuche ungeschickt die Mutter zu entschuldigen. Ich weiß schon jetzt, dass ich sie nicht zur Rede stellen werde. Ich versuche auch das zu erklären, zu entschuldigen. Die Freundin versteht es. Sie versteht alles, ist einfach wieder da und in ihren Augen komme ich heim.

Ich stelle sie nicht zu Rede. Weil es keinen Sinn hätte. Weil sie wahrscheinlich lügen würde, oder sich nicht erinnern könnte. Weil es bloß die wiedergefundene Freundschaft gefährden würde, Treffen mit der Freundin bei zukünftigen Heimatbesuchen erschweren würde, weil ich Angst habe, Angst vor ihr, vor ihrem Haß, den Worten, der Bosheit, den Nadelstichen, vor ihrem Tod, vor ihrem Schmerz, vor meinem Zorn. Weil ich sie liebe, schmerzhaft, qualvoll liebe, wie sie mir von klein auf geboten hat, sie zu lieben.
Weil sie meine Mutter ist.

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Mock Turtle

Sit down, both of you, and don't speak a word till I've finished

Who sits there?

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