Aus dem Schatzkästchen der Mock Turtle

22
Okt
2009

Windungen

Vielleicht ist es einfach der Herbst, der die Vergangenheit wie Blätter von den Bäumen weht. Manchmal zaust sie mich gar wie der kalte, alles durchdringende Wind dieser Stadt, dass es weh tut.

Paddabompaddabompaddabom tönt es am Samstag durch unsere Gasse, als ich das Haus verlasse. Ich versuche das Geräusch noch einzuordnen, da sehe ich den Buben schon, der einen Ball gegen die Wand schlägt. Aufpäppeln lässt, schlägt. Aufpäppeln lässt schlägt – das habe ich auch oft gemacht. Auch imHerbst. Die Luft riecht nach Laub, irgendwie. Paddabompaddabompaddabom. Ein kleines Mädchen, dick vermummt, sieht zu mir her. Paddabompaddabompaddabom. Kinder, die auf der Gasse Ball spielen, sind selten geworden, so nah am Herzen einer Großstadt überhaupt.. Auch das ist Wien, denke ich mir. Als ich um die Ecke biege, erfasst mich der kalte Wind. Auch das ist Wien, denke ich mir.

Wie ich diesen Wind hasste, als ich neu in der Stadt war. Eigentlich nur den Wind. Allles andere fand ich wunderbar. Mein „Wohnzimmer“ lag schräg gegenüber von meiner Parterre-Wohnung im Souterrain. Es hatte einen mehr oder minder originellen Namen und durch die Fenster konnte man im Vorbeigehen ausmachen, welches von den zahlreichen mehr oder minder possierlichen Haustiere sich an der Tränke labte. Dorte labte ich mich, dort liebte ich, dort lebte ich. Semesterlang und irgendwann dann wechselte ich von vor der Bar hinter die Bar. Die Haustiere blieben die gleichen, die Geschichten auch. Geliebte, Gefürchtete. Manchmal fegte das Schicksal durchs Lokal. Der Weg zwischen Erdgeschoss und Souterrain war kurz, nie war ich lange dem kalten Wind ausgesetzt.

Der Weg zur Uni war weiter. Und was war schon eine Universität früh morgens gegen ein Universum in der Nacht."If you close the door the night will last forever." Es war mein Universum, ich war dort Königin. Nein nicht Königin, sondern Kronprinzessin. Königin war sie, die Wirtin, meine Freundin. Unsere Freundschaft erfüllte mich mit sanftem Stolz. Ich war nicht so gut mit Frauenfreundschaften, sie auch nicht. Sie achtete ein bisschen auf mich, kuppelte da und dort und mahnte dann und wann. Meist bei einem Spritzer, Rose Mineral und spät nachts einem Williams oder Fernet. Zwei Mal im Jahr machte sie alkoholfreies Monat. Zwei, drei Mal machte ich mit. Zu gefährlich der Job. Zu abschreckend die Beispiele.

Wie jener Gast und Freund, der eines Nachts begann, verzweifelt Spinnen und Käfer von seinem Körper zu verscheuchen – mehr und mehr wurden es, wir sahen sie nur in seinen Augen. Am nächsten Morgen Baumgartner Höhe und dann Entzug. Er verbrachte zig Nachmittage, in denen der kalte Wind durch die Straßen pfiff bei heißem Kaffee in meiner Küche, damit er trocken bleibt. Abends übernahm die Wirtin, übernahm das Lokal. „Er wird wohl rückfällig werden“, propehzeite sie, ich nickte. Früher war sie Sozialarbeiterin. Damals immer noch.

Ich bewunderte sie, die nur wenige Jahre älter ist als ich. Sie ist Vorarlbergerin, fuhr eine Yamaha Midnight Star, hatte lange blonde Haare, spielte Squash und sogar ein wenig Gitarre. Sie war die „Unknown Legend“. Sie war die Königin. Und sie war eine Freundin wie aus dem Mädchenbuch. Nichts konnte unsere Freundschaft stören. ich war die Einzige imLokal, der sie von ihrer Hochzeit erzählte. Niemandem durfte ich den wirklichen Anlass für das Sommerfest beim Heurigen verraten. Und ich hielt dicht. Sie konnte sich auf mich verlassen. Auch als die Ehe scheiterte. Ich konnte mich auf sie verlassen. Auch als sie dem Typen mit dem Wuschelkopf, der sie nach ein Uhr morgen nach mir fragte, entgegen jeglichen Hausbrauchs einen Toast servierte. Und ein Telefon. Schließlich hatte ich mit einem anderen das Lokal verlassen. Der Typ war der Liebste. Es war Frühling. Es wehte ein laues Lüftchen.

Irgendwann zu der Zeit hörte ich auf zu kellnern, ich hatte einen echten Job gefunden. Ich blieb noch eine Zeit Stammgast.Wir blieben Stammgäste, der Liebste und ich. Und ich vernachlässigte meine Freundin. Die Liebe, der Job jenseits der Grenze, neue Freunde. Und doch: Jahre trieben wir uns in derselben Herde herum. Allein- zu zweit kaum mehr. Manches nervte mich an ihr, manches sie wohl an mir. Kleinigkeiten kein Bruch, eher ein Auseinanderdriften durchs Grätzel. Sie hatte kein Glück mit der Liebe. Einen geliebten Teilzeithund hatte sie ihr der Katzenfreundin eingetragen und eine Quasi-Schwiegermutter als Seelenfreundin. Mit dem Lokal hatte sie auch kein Glück. Mit dem Alkohol, dem Leben. Das Mädchen aus den Bergen fror immer mehr, verlor sich in der Stadt.

Meine, unsere, Putzfrau – und wunderbares Wesen – hat mir all das über die Jahre erzählt. Morgens stehend, in der Küche. Einmal habe ich Frau Wirtin angerufen, sind wir zusammen spazieren gegangen. „Das machen wir bald wieder.“ Später habe ich sie dann wieder angerufen, weil sie auf Entzug war. „Nein, komm mich nicht besuchen. Nachher treffen wir uns.“ Ich habe nicht mehr angerufen, sie hatte wohl weder die Kraft, noch das Geld. Ich habe mich für mich geschämt morgens in der Küche, wenn ich hörte, wie sie litt, leiden musste. Ich habe oft an sie gedacht. An damals..

Eine Stammgästin aus jenen Tagen feiert in diesen Tagen einen runden Geburtstag, ein fröhliches Vollweib mit Mädchen-Allüren. Der hagere Genießer an ihrer Seite richtete ein prächtiges Fest aus und ich bin geladen. Der Liebste ist verhindert. Meine, unsere Putzfrau weiß viel von der herrschenden Aufregung zu berichten, denn auch dort ist sie guter Geist und Vertraute. Frau Wirtin wird auch da sein. Ich freu mich auf sie.

Wenn ich die Brille abnehme, sieht sie fast aus wie damals. Ich bin kurzsichtig und wir sitzen uns schräg gegenüber. Kurz fällt mir eine Geschichte von Ingeborg Bachmann ein über eine Frau, die Angst hat die Brille aufzusetzen, weil sie die Welt in ihrer Klarheit nicht sehen will. Die Geschichte habe ich damals gelesen , in diesen Jahren. Wir hatten darüber gesprochen. Ich fühle mich nervös, hektisch. Aber kennt sie mich anders aus jenen Jahren? Kennt sie mich? Kenne ich sie? Ihre Augen sind so traurig. Sie wirkt verloren auf diesem fröhlichen Fest. Ich fühle mich verloren. Wie unter einer Glocke der Jahre. Die blonden langen Haare glänzen wieder. Und sie hat auch wieder abgenommen. Wenn da nicht diese Traurigkeit wäre, die ebenso deutlich zu spüren ist wie die Angst. Ich denke an die starke Frau auf dem Motorrad, an den gemeinsamen Urlaub in Sardinien, daran wie sie Betrunkene vor die Tür gesetzt hat, an ihr Lachen, unsere Nächte. Ihren Schmerz. An alles was sie für mich getan hat. Und kann nichts tun. Und trinke. Der Gastgeber hatte ihr Johannesbeersaft ins Glas gegeben, damit niemand blöde Fragen stelle, erklärt sie mir gleich zu Beginn unseres Gesprächs. Vielleicht hat sie befürchtet, dass ich frage. Oder nicht frage. Da sitzen wir mit den vergangenene Gefühlen, unfähig die Zeit dazwischen aufzufüllen, sehr Persönliches vermischt mit Oberflächlichkeiten. Und kann, und will nichts tun.Ich hole mir noch ein Glas Sturm.

Es geht ihr gut, beteuere ich mir im Rhythmus meiner Schritte als ich von diesem Fest zum nächsten eile. Der kalte Wind. Hätte ich nicht trinken sollen neben ihr? Um Mitternacht habe ich vom Geburtstag zum Todestag gewechselt. Ein Fest gewidmet Einem, der vor zehn Jahren in die falsche Richtung gefahren ist. Auch Vergangenheit, auch ein Grund zu trinken. Der Erstgeborene hat aufgelgt und ich habe getanzt und endlich gelacht und getrunken. Es war hell als ich vor seiner Türe stand. Vielleicht war es auch windstill.


TheplaceIwanttobe
.
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8
Sep
2009

Zen oder die Kunst zu lieben

So möchte ich lieben können:

ohne zu hoffen
ohne zu glauben
ohne zu fragen
ohne zu sagen
ohne zu fürchten
ohne zu bangen
ohne zu stürmen
ohne zu drängen
ohne zu wollen
ohne zu wünschen
ohne zu denken
ohne zu tun
ohne zu zittern
ohne zu zagen.

So möchte ich lieben können.
Einfach nur lieben.

Doch möchte ich so geliebt werden?

Emportemoi
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30
Apr
2009

Die Krise

Und dann war die Krise in ihrem Herzen angekommen.
Die Kurse fielen.
Es stand schlecht um den Hedge-Fonds Sehnsucht,
das Derivat Hoffnung.
Und so musste sie einige ihrer Träume entlassen
und mit ihren Gefühlen Kurzarbeit vereinbaren.
Die Insolvenz drohte.
Kaum Chancen auf einen Kredit.
Sie hatte keine Sicherheiten.
Ihr Herz war nur ein Dienstleistungsbetrieb.

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21
Apr
2009

Kleiderfrage

Ein Ölfleck am Kleid.
Nein, nicht Öl, sagt der Liebste.
Nicht einmal ein Fleck.
Und kratzt ihn weg.
Doch ich sehe ihn noch immer.
Und ich sehe das Kleid,
dort wo er nicht war,
der Fleck,
die Farben ausgebleicht,
der Stoff schon dünn geworden,
rissig und schleißig,
nicht mehr modern.
Manchmal zwickt es,
oft friert mich.
Und doch ist es
das Lieblingskleid.

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3
Apr
2009

Frühlingserwachen







Sonnenstrahlen küssen die Sehnsucht wach

Wie Krokus und Tulpe ist sie ein Zwiebelgewächs

Eine Knospe geborgen unter vielen Schalen und Häuten

Und drängt nun durch die kühle Erde nach oben

So gierig und hungrig nach Licht und Wärme

Bereit, sich wieder in Farbe und Duft

Ganz zu verströmen

Blühen, blühen,

blühen

will

sie.

Und

noch

nicht

vergehen

 

 

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28
Dez
2008

Eisrevue

Am dünnen Eis der Vorhölle laufen verlorene Kinder Schlittschuh. Scharfe Kufen zeichnen ihnen Achter auf die Seele.
Irgendwann wird es wieder Sommer.

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22
Aug
2008

Die letzte Flasche

Ich habe sie neulich im Keller gefunden –
die letzte Flasche von unserem Wein.
Jetzt steht sie vor mir seit vielen Stunden,
ich weiß noch nicht: Schenk ich mir ein?

Du hast mich so viel über Wein gelehrt
Über Trinken, Genuss, über Lust,
ich hab dich geliebt – du hast mich verehrt
es war heiß in diesem August.

Doch in dem Keller war es angenehm frisch,
und wir verkosteten Glas um Glas,
die Winzerin saß mit uns am Tisch,
du warst konzentriert, ich hatte Spaß.

Ich mach jetzt doch diese Flasche auf
ganz so als wär ich nicht allein,
ich stelle einfach zwei Gläser auf
und schenk in beide etwas ein.

Ich heb das Glas zur Kerze hin
Wie klar und schön, wie satt das Rot
ich sehe deine Lippen darin,
und auch die Tränen meiner Not.

Aus dem Handgelenk ein weiches Schwenken
und atme ein des Weines Duft,
nur spüren, ahnen, bloß nicht denken,
ein Hauch von Beeren liegt in der Luft.

Doch ich rieche da noch mehr,
ein kleines Zimmer, Leidenschaft,
und plötzlich rieche ich dich sehr,
deine Wollust, deine Kraft.

Ich rieche unsre schönen Stunden
Und auch ein wenig Traurigkeit;
ich rieche meine blutigen Wunden;
ich rieche meine Einsamkeit.

Ich führ das Glas an meine Lippen;
ich will ihn schmecken, diesen Wein,
am Anfang vorsichtig dran nippen,
dann erst lass ich mich auf ihn ein.

So hast du es mir beigebracht,
am Anfang stand ein scheuer Kuss,
dann folgte unsere erste Nacht
und dann Ekstase bis zum Schluss.

Doch irgendwann ist die Flasche leer,
und alle Gläser ausgetrunken,
bin müde und will auch nicht mehr,
bin tief im roten Wein versunken.

Dein Glas ist immer noch halb voll
Nur meines, das ist viel zu leer,
ich weiß nicht, was ich machen soll,
ich vermiss dich halt so sehr.

Es war die letzte Flasche von unsrem Wein,
Es wird andere Weine geben,
es wird ein anderer Sommer sein
und vielleicht ein anderes Leben.

Und sollten wir uns wieder sehen,
morgen oder irgendwann,
dann lass uns etwas trinken gehen,
stoßen wir auf die Liebe an.

Beitrag der Mock Turtel zum Wettbewerb "vinum et litterae". Leider nicht ausgezeichnet, aber hiermit aufgezeichnet, meint die Mock Turtle.

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13
Apr
2008

Vom kleinen Prinzen

(für Anousch O.)

Das Schaf hat die Blume nicht gefressen. Glaub ich zumindest. Weil der kleine Prinz damals nämlich nicht auf seinen Planeten zurückgekehrt ist. Sondern eines Tages am 25. Geburtstag der Mock Turtle, der sich ein wenig wie der 250ste anfühlte, in ihrem Bett gelandet ist. Irgendwie war er ihr vom Feste übrig geblieben, damals in der brechtigsten Zeit ihres Lebens, als sie verletzt, bereit war das Messer zu nehmen, das Mann ihr reichte. Der kleine Prinz war aber kein Mann, mehr Knabe und von einem anderen Stern.

Und so warnte sie ihn und küsste ihn trotzdem. Sie beschwor ihn, ihr fern zu bleiben, und zog ihn fest an sich. Dann zog sie ihn aus, streifte das seidene Hemd vom schmalen Körper und nahm ihn mit in ihr quietschendes Messingbett. Am nächsten Tag hatten beide blaue Flecken an den Hüften. Und obwohl gewarnt, kehrte der kleine Prinz immer wieder.

Die Mock Turtle rezitierte Brecht für ihn und er erzählte ihr von Zeppelinen. Sie fotografierte ihn auf Friedhöfen. Sie küssten sich und manchmal fürchtete sie, dass er sie zähmen könnte. Aber er versprach ihr, sie nicht zu lieben.

An manchen Tagen war sie Königin und er ihr Untertan. "Küss mich", befahl sie: "Ich habe das Recht, Gehorsam zu fordern, weil meine Befehle vernünftig sind."

An anderen Tagen war sie eitel und er ihr Bewunderer. "Ich bewundere dich", sagte der kleine Prinz, indem er ein bisschen die Schultern hob, "aber wozu nimmst du das wichtig?"

Manchmal trank sie, um zu vergessen, dass sie sich schämte, weil sie soff.

Oft, wenn sie gemeinsam tranken, zahlte sie für beide. Und sie erklärte ihm, dass er nicht ewig von Luftschiffen träumen könne, sondern dass er auch daran denken müsse, Geld zu verdienen: "Wenn du als erster einen Einfall hast und du lässt ihn patentieren, so ist er dein. Und ich, ich besitze die Sterne, da niemand vor mir daran gedacht hat, sie zu besitzen."

Wenn die Tage wie Minuten vergingen und die Mock Turtle herum wirbelte, versuchte er ihr beizuspringen: "Weißt du ... ich kenne ein Mittel, wie du dich ausruhen könntest, wenn du wolltest..." »"ch will immer", sagte die Turtle.

Doch letztendlich war es aussichtslos. Irgendwann erklärte ihm die Mock Turtle, dass ihre Küsse und die Nächte in dem quietschenden Messingbett vorbei gehen würden, dass auch die Nicht-Liebe vergänglich sei. "Aber was bedeutet 'vergänglich'?", wiederholte der kleine Prinz, der in seinem Leben noch nie auf eine einmal gestellte Frage verzichtet hatte. "Das heißt von baldigem Entschwinden bedroht'."

Schließlich bewegte sie sich weiter und weiter weg von ihm. Und küsste einen anderen, der mehr Mann war und weniger zerbrechlich. Als der kleine Prinz sie wieder einmal besuchen wollte, verschlief sie sein Klingeln in ihrem Messingbett. Sie traf sich noch einmal mit ihm, bevor der andere in dieses Bett einzog. "Du hast es doch gewusst, kleiner Prinz, dass du mich nicht lieben sollst, Ich hab dir doch vom Messer erzählt", erklärte die Mock Turtle, Und er lachte wieder. "Und wenn du dich getröstet hast (man tröstet sich immer), wirst du froh sein, mich gekannt zu haben. Du wirst immer mein Freund sein", versprach sie.

Ein Jahr später war die Mock Turtle eingeladen zur Jungfernfahrt eines silbernen Zeppelin.
Der kleine Prinz hatte ihn gebaut. Doch der Prototyp stürzte ab.
Dann ist der kleine Prinz aus ihrem Leben entschwunden.

Das Schaf lebt bei der Mock Turtle und ihrem Mann.
Der kleine Prinz streichelt hoffentlich den Fuchs, der seine Liebe mehr verdient als alle Rosen.
Und mögen seine Zeppeline fliegen.

 


 

Wie sagte Anousch 0.: Prototypen können so rührend sein. 

1762 mal erzählt

21
Mrz
2008

21. März

Ich spreche vom Mond
und von glitzerndem Glas
von Lust und von Träumen
und von was, weiß ich was.

Von roten Lippen
Zur blauen Stunde,
Von dunklen Gedanken
Verbreit ich die Kunde.

Ich singe von Liebe
Und Sehnsucht wie nie,
Denn heute ist schließlich
Welttag der Poesie.

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27
Feb
2008

Holger

Wie ein warmer ausgestreckter Arm legte sich ein Blick um Susannas Schulter, während sie ein Pils zapfte. Sie wusste gleich, wer ihr diesen Blick gesendet hatte, sie musste sich nicht umdrehen. In den letzten 20 Jahren hatte sie gelernt, Blicke zuzuordnen, ohne sie erwidern zu müssen. Auch wenn sie weniger geworden waren. Es war auch diese Sehnsucht der nachts Streunenden, die sie von Anfang an für diesen Job, der ein Beruf geworden war, begeistert hatte.

Sie konnte sich noch genau an jenen Abend erinnern, als Peter sie gebeten hatte, die Seiten zu wechseln – vom Stammgast an der Theke zur Aushilfe hinter der Theke. Drei Stunden hatten gereicht, um ihr Leben zu verändern, um sie erkennen zu lassen, was ihre wahre Bestimmung war. Als sie in den frühen Morgenstunden heimgekehrt war, hatte sie sich an Holger geschmiegt und ihm von all den Blicken, den Scherzen, den Menschen erzählt. Zwei Tage später stand sie wieder hinter der Bar. Sie war glücklich.

Susanne genoss die Zuneigung der Stammgäste, ihren Respekt, der scheinbar gewachsen war, seit sie die magische Schranke aus Holz überwunden hatte. Sie gab sich der Arbeit hin, versuchte das perfekte Bier zu zapfen, merkte sich die Vorlieben ihrer Gäste, und das kleine Einmaleins der Wein-Achteln. In nur einem Monat eroberte sie die sechs Quadratmeter zwischen Schank und Küche, machte sie zu ihrer Bühne. Sie flirtete, war schlagfertig und hörte zu. "Zuhören ist das Wichtigste", erklärte sie Holger bei ihren frühmorgendlichen Berichten. Und weil er immer zu Hause blieb, beschrieb sie ihm alles detailliert. Er war ein fantastischer Zuhörer

Schon bald wurde Susanne zur Projektionsfläche der Einsamen, zur Zielscheibe der Sehnsucht. Wie eine Psychotherapeutin erlegte sie sich die Pflicht auf, mit ihren Klienten, mit ihren Gästen, keine sexuellen Beziehungen zu beginnen. Und da war ja auch noch Holger, ihr Schutzschild. Mehr als einmal warf sie frühmorgens einen Blick auf die Uhr: "Oh - so spät schon, ich muss heim, Holger wartet." Es waren seine Augen, die sie sich vorstellte, wenn die Gefahr bestand in anderen Augen zu ertrinken, wenn fremde Blicke sie zu fest berührten.

Aus zwei Wochendiensten wurden fünf, das Aufstehen wurde immer schwieriger und schließlich gab sie ihr Studium auf. Lehramt Deutsch und Englisch war lächerlich gegen all das, was das Leben sie dort in dem kleinen Lokal lehrte. "Das musst du verstehen", erklärte sie Holger eines Tages. Er sah sie an, ja, er brummte ein wenig, mehr aber nicht. Ihre Eltern brüllten. Sie sei nicht mehr ihre Tochter, tobte die Mutter, sie würde schon sehen, wo sie ende, erklärte der Vater. Susanne war traurig deswegen. Aber ihr blieb Holger.

Irgendwann küsste die dann doch einen Gast. Sie hatte ihre Schutzschilder nicht rechtzeitig ausgefahren und ehe sie sich versah, war sie in seinen Augen versunken. Seine Blicke zogen sie aus, seine Worte hüllten sie ein und je mehr sie sich wehrte, desto mehr verstrickte sie sich in ihnen. Sie erzählte Holger nichts von ihm und ihm nichts von Holger. Nachdem sie mit, bei ihm geschlafen hatte, duschte sie lange und gründlich. So als könnte sie ihre Schuld mit seinem Geruch abwaschen. Es war schon mittags als sie heim kam. Holger stellte keine Fragen. Als dieser Gast kurz darauf fern blieb, war sie erleichtert.

Ein anderer war hartnäckiger. Er wollte einen Stammplatz an der Bar und einen Fixplatz in ihrem Leben. Seine Blicke waren Übergriffe, taten ihr Gewalt an, nahmen sie in Polizeigriff. Deswegen gab sie ihm ursprünglich nach, deswegen hatte sie dann genug. Manchmal hatte sie Angst, dass Holger die blauen Flecken entdecken würde, die seine Sehnsucht hinterließ. Vielleicht wollte er sie bloß nicht bemerken. Was sie anfangs fasziniert hatte, stieß sie bald ab. Da tat einer wie ein Stammgast und war keiner. Sie warf Worte wie Steine nach ihm, um ihn zu verjagen. Es gelang.

Einmal verliebte sie sich in einen androgynen Prinzen. Wegen dem hätte sie sogar Holger verlassen. Ein Schweigen gegen das andere eingetauscht. Monatelang vereinigte sie sich mit ihm in jenen seltsamen Phasen zwischen Wachheit und Traum. Immer schuldbewusst, weil sie ja den wahren Geliebten in ihrem Armen hielt, während ihr Kopf fremdging. Abende lang schlug ihr Herz höher, wenn sich die Tür zur kleinen Bar öffnete. Er hätte ja kommen können. Irgendwann kam er auch wieder, eine Schönheit im Schlepptau. Das half.

Als Susanna an diesem Abend das Lokal zusperrte, stand Karl neben ihr. Seit 20 Jahren war er Stammgast. Seit seiner Scheidung vor zwei Monaten war er täglich in der kleinen Bar und ließ sie nicht aus den Augen. Seit zwei Wochen begleitete er sie nach der Sperrstunde jeden Tag bis zu ihrer Wohnung. Als sie einmal ein wenig gefröstelt hatte, hatte er seinen Arm um ihre Schulter gelegt. Seitdem tat er auch das wie selbstverständlich. Vor der Haustüre verabschiedete er sich für gewöhnlich mit zwei Wangenküssen: "Grüß Holger, unbekannterweise."

An diesem Abend aber nahm er nach den beiden Küsschen Susannas Kopf in seine großen, warmen Hände. Er sah ihr in die Augen. Obwohl seine Blicke ihr so wohl vertraut waren, hatte sie nie gewusst, wie schön seine Augen waren, dachte sie, als er sie endlich küsste. Sein Biergeschmack vermischte sich mit ihrem Fernetgeschmack. Nach dem langen Kuss verbarg Karl sein Gesicht an ihrer Schulter: "Bitte, bitte, nimm mich mit rein." Seine Stimme war leise und rau. "Holger…", stammelte sie. Dann sperrte sie auf. Es wurde eine leidenschaftliche Nacht, vielleicht die leidenschaftlichste Nacht ihres Lebens.

Susanne erwachte eng an Karl gepresst. Sie hörte seinen Atem, spürte seine Haut, ihre linke Hand hielt sich an seinem Brusthaar fest. Sie mochte seinen Geruch. Noch wagte sie nicht die Augen zu öffnen. Hinter geschlossenen Lidern beschwor sie noch einmal die Bilder der letzten Nacht. Erst jetzt machte sie vorsichtig die Augen auf, Wo war Holger? Und da sah sie ihn. Karl hatte ihn mit seiner rechten Hand fest an sich gepresst, ihren alten abgeliebten Stoffbären. Holgers Augen glänzten.

Susanne lächelte.
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Mock Turtle

Sit down, both of you, and don't speak a word till I've finished

Who sits there?

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