Aus dem Schatzkästchen der Mock Turtle

20
Dez
2010

Spurensuche

Im reinen Schnee
scheinen die Spuren besonders deutlich.
Jenen, die sie zu lesen verstehen,
erzählen sie,
was geschehen sein
mag.

Erst, wenn es wieder warm wird
und taut,
wird sichtbar,
was unter die weiße Decke
zu dringen
vermochte.


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Auf die Spur gebracht von ConAlma und Testsiegerin.
1414 mal erzählt

19
Sep
2010

Sonntag Morgen Seufzer

Kaum eine Sekunde alllein
und so einsam.
Tausend Worte im Kopf
und so sprachlos.
Ein Bett hier wie dort
und keine Heimat.

Gitarrero
736 mal erzählt

7
Sep
2010

Herbst-Blues

Jetzt kam der Herbst, jene unglückliche Zeit, in der er wieder rasch zum Mittelpunkt jeder Party wurde.

„Hast du bitte die Eva gesehen? Das gibt es doch nicht!“

Wie er es hasste, wenn sich diese widerlichen Menschen um ihn scharten.

„Geh hast a Feuer?“

Der Kopf surrte ihm von ihren hohlen Gesprächen.

„Und dann sagt er doch glatt zu mir, dass der Job schon vergeben ist.“

Ob er auf sie herabblickte?

„Ich brauch noch ein paar Tage Urlaub im Herbst, sonst halt ich das nicht aus…“

Selbstverständlich, blickte er auf sie herab.

„Du schaust übrigens ganz toll aus, das muss ich dir einfach sagen.“

Sie wollten von ihm beschirmt werden, sie suchten seine Wärme, waren die Nutznießer seiner Energie.

„Ich mach ja jetzt Bikram-Yoga, heiße Sache.“


Und zum Dank nebelten sie ihn ein, bliesen ihren Rauch wie ihre leeren Worthülsen aus.

„Ich liebe diesen Mann, sagte ich das bereits.“

Er schwieg, er lachte auch nicht über ihre Witze.

„Bist du auf facebook?“

Manchmal fühlte er sich ebenso hohl wie sie.

„Wenn ich dir sage: Nagelneu!“


Und doch unter Strom.

„Du, 120 Euro, vier Gänge – schreckt mich gar nicht.“


Fast immer hatte er den Eindruck auf bleiernen Füßen zu stehen.

„Und dann erklärt er mir, dass er das längst gewusst hat.“

Vielleicht war es ja sein Fehler.

„Ich lass vor der Kuh doch nicht so weit die Hosen runter.“

Weil er an all das nie geglaubt hatte.

„Ich weiß nicht, was die Leut haben…“

Aber wer konnte schon ahnen, dass man als Heizpilz wiedergeboren werden kann…
verdammt schlechtes Karma.

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916 mal erzählt

5
Aug
2010

Mutter:Liebe

„Und dann hat mich deine Mama rausgeworfen.“ Sie war die beste Freundin der ersten zehn Lebensjahre. Wir waren unzertrennlich und haben uns geliebt, zwei kleine Mädchen, die zusammen spielten, Geheimnisse teilten, ja sogar gemeinsam auf dem Klo saßen. Jetzt ist sie eine schöne Frau, hat selbst drei Kinder, die mich begrüßen, als wäre ich ihnen schon längst vertraut. Sie wissen, dass ich eine Bücherratte war und dass mir ihre Mutter von meiner Mutter immer als leuchtendes Vorbild hingestellt wurde, weil sie so sauber war und ordentlich, nicht verträumt, wild, chaotisch, mit stets schmutzigen Fingern wie ich. Das mit dem Rauswurf wissen sie hoffentlich nicht. Ich wusste es nicht – all die Jahre, die ich die Vertraute so vermisst habe, all die Jahre bis sie mich wiedergefunden hat. Ich schaue sie mit großen Augen an, wir sitzen uns gegenüber im Fischrestaurant. Eigentlich wollte die Mutter mitgehen an diesem Abend, aber dann war sie doch zu müde und ließ mich mit der Freundin alleine ziehen.

Sie brauche nicht mehr zu kommen und anzurufen auch nicht, habe sie der Zehnjährigen erklärt. Die kleine Turtle ginge jetzt aufs Gymnasium und habe andere Freundinnen, besser passende. „Und das war nicht der erste Rauswurf, aber an den habe ich mich gehalten“, sagt die Freundin, deren Hand ich drücke. Wir weinen. Ich bin fassungslos. Ich schäme mich, für meine Mutter und auch ein wenig für mich, weil ich nicht um diese Freundschaft gekämpft habe, weil ich nicht weiter den Kontakt gesucht habe. Ich versuche mich zu erinnern, wie es war die Freundin zu verlieren.

In der Arbeitersiedlung nebenan habe ich als Kind viele schöne Stunden verbracht, wohl ein paar der schönsten. Ich fühlte mich wohl in den kleinen Wohnungen mit den Kohleöfen und den Klappbetten, mit Zeichen des erarbeiteten Wohlstands der späten Sechziger Jahre: Großen Puppen in gehäkelten Kleidern, venezianischen Gondeln, Souvenir vom Jesolo-Urlaub, aus Bibione, vom Brennermarkt. Kelomats und Fädenlampen. Ich habe als Kind dort Kekse gebacken mit Kochmütze und Schürze. Ich mochte das Leben und die Menschen in diesen Wohnungen, Männer, die mit flüssigem Eisen an Hochöfen arbeiten, weiche Frauen in Kittelschürzen. Ich mochte es durch Stiegenhäuser zu tollen und sich an den Knien von Teppichstangen hängen zu lassen. Ich war dort glücklich, vielleicht sogar glücklicher als im Haus nebenan. Dann zog die Freundin weg in eine andere, neue Siedlung in den neuen Ortsteil. Auch dort besuchte ich sie gerne, ihre Mutter briet uns „Arme Ritter“, wir hörten Schallplatten wie „Ein Abend auf der Heidi“ und kicherten. Und irgendwann war das nicht mehr.

In dem Fotoalbum, das ich mitgebracht hatte, um ihren Kindern Bilder aus der gemeinsamen Zeit zu zeigen, rutschen Fotos der anderen Freundin, der besser passenden, Anwaltstochter wie ich. Viel Bemühen steckte in dieser Freundschaft, wirklich innig wurde sie nie und es blieb schwierig mit den Mädchenfreundschaften. Die beste Freundin ein Laben lang hätte ich mir manchmal gewünscht. Mit der anderen Anwaltstochter bin ich auf Facebook befreundet. Kein weiterer Kontakt. Und noch eine Freundin war da in den Jugendjahren. Hallerin wie die Mutter und von dieser zwischen geduldet und vereinnahmt. Weit weg, so oder so. Unachtsam habe ich viel Menschen verloren.

Auch die vielen Freunde der Eltern fallen mir ein, die eine Zeit lang mein Leben intensiv begleitet haben und dann verschwunden sind. Weil sie dem strengen Urteil der mutter nicht mehr genehm waren? Nicht passend? Ich fühle mich bestohlen. Und auch da das alte Gefühl von Scham. Und Vermissen. Und Sehnsucht. Und Haß.

Spät nachts ruft die Mutter am Handy an, weil ich noch immer nicht zu Hause bin. Sie meldet sich nicht. Der stumme Anruf ist ihr Zeichen genug. Ist auch mir Zeichen genug. Ich dränge die Freundin zum Aufbruch. Wir trinken aus. Ich versuche ungeschickt die Mutter zu entschuldigen. Ich weiß schon jetzt, dass ich sie nicht zur Rede stellen werde. Ich versuche auch das zu erklären, zu entschuldigen. Die Freundin versteht es. Sie versteht alles, ist einfach wieder da und in ihren Augen komme ich heim.

Ich stelle sie nicht zu Rede. Weil es keinen Sinn hätte. Weil sie wahrscheinlich lügen würde, oder sich nicht erinnern könnte. Weil es bloß die wiedergefundene Freundschaft gefährden würde, Treffen mit der Freundin bei zukünftigen Heimatbesuchen erschweren würde, weil ich Angst habe, Angst vor ihr, vor ihrem Haß, den Worten, der Bosheit, den Nadelstichen, vor ihrem Tod, vor ihrem Schmerz, vor meinem Zorn. Weil ich sie liebe, schmerzhaft, qualvoll liebe, wie sie mir von klein auf geboten hat, sie zu lieben.
Weil sie meine Mutter ist.

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1767 mal erzählt

12
Jul
2010

Wiedersehen

Er war die erste große Liebe der kleinen Turtle, ihre Kinderliebe. Der hübscheste Bub in der ganzen Volksschulklasse, groß mit dunklen Haaren, braunen Augen und einem strahlenden Lächeln. „Haifischflossensuppe“ nannte er als seine Lieblingsspeise, als in der Schule danach gefragt wurde, „Weinbergschnecken“ waren es bei der kleinen Turtle – dermaßen kuriose und zugegeben kapriziöse Leibspeisen in der ländlichen Schule, wo alle anderen von Schnitzel, Palatschinken, Spaghetti und Pommes Frites träumen, verbanden.

Er ist doch tatsächlich Koch geworden, der kleine Junge mit Appetit auf Haifischflossensuppe. Und gar kein schlechter, wie mir das Internet - kurz nachdem er mich vor zwei Jahren dort wieder gefunden hat – mitteilt. Er hat sich durch die Welt gekocht von Absam nach Frankreich und über New York schließlich nach Lateinamerika. Manchmal unterhalten wir uns auf Skype. Er gibt mir Kochtipps.

Die kleine Turtle träumte keine Vater-Mutter-Kind-Träume, sie spielte nicht mit Puppen, sie war ein wildes Mädchen und verlieh ihrer Sehnsucht in Raufereien und Schlachten im Kartoffelacker Ausdruck. Zum General der Buben stilsierte sie ihn hoch, als Piratenkönigin sah sie sich in ihren Träumen mit ihm kämpfen, erst gegen ihn und dann an seiner Seite. Wie ein Bub raufte sie, ohne Zwicken und Kratzen und vor allem ohne ein Zeichen des Schmerzes – auch damals nicht, als Weidenruten auf ihren Wadeln landeten. Süße Tapferkeit.

Wir haben länger kaum geschrieben, sind selten gleichzeitig online. Vor zehn Tagen leuchtet seine Name wieder bei Skype auf. Auf Heimaturlaub in Tirol sei er, läßt er mich wissen. Ich auch, antworte ich. Ob wir uns dann nicht treffen könnten auf einen Kaffee? Klar, warum nicht. Die Stimme am Telefon am nächsten Tag klingt fremd, seine Erwachsenenstimme habe ich nie gehört.

Abends lief Odysseus im Fernsehen – eine Serie, faszinierend wie die Griechen- und Heldensagen, die die Kleine Turtle damals schon verschlang. Das wollte sie inszenieren, das kleine Mädchen in der vierten Klasse Volksschule und er, er hätte ihr Odysseus sein sollen. Welche Rolle sie übernehmen wollte, war ihr nicht ganz klar. Vielleicht die der Circe, bloß Frau zwar, aber mächtige Zaubererin.

36 Jahre sind eine lange Zeit und am Weg zum verabredeten Treffpunkt wird mir ein wenig mulmig. Aus dem Kaffee ist eine Verabredung zum Essen geworden. Ich bin zu früh dran und spaziere langsam an Auslagen vorbei. Wie seltsam, während meiner Besuche bei meiner Mutter gelingt es mir nie Freunde oder Freundinnen aus Kindheit und Schulzeit zu treffen. Wenn ich durch die Straßen der Provinzstadt gehe, sehe ich keine vertrauten Gesichter und plötzlich will ich mit einem den Abend verbringen, den ich 36 Jahre nicht gesehen hatte.

Und dann kam es, wie es kommen musste. Die kleine Turtle und ihre große Liebe wurden vom Schicksal getrennt: Nach der Volksschule besuchten sie zwei verschiedene Schulen, nicht einmal im Bus konnten sie sich treffen, er fuhr mit der Dörferlinie D oben im Dorf, sie mit der Linie 4. Sie dachte noch lang an ihn. Im Dachbodenparadies ihrer Kindheit hingen zwei Zeichnungen, die er ihr geschenkt hatte, ein Reiher und der Haller Münzturm. Sie hielt noch ein Weilchen nach ihm Ausschau, fuhr auch hin und wieder mit dem anderen Bus. Einmal traf sie ihn bei einem Volleyballmatch in der alten Schule. Es kribbelte, aber sie blieben sich fremd.

Ich bin noch immer zu früh und suche im Gastgarten nach einem, der mir irgendwie vertraut erscheint. Würde ich ihn erkennen? Er mich? Am suchenden Blick vielleicht und daran, dass man an einem lauen Sommerabend nicht allein am Tisch sitzt. Schließlich wähle ich einen Platz mit gutem Überblick. Ich erkenne ihn sofort, als er durch den Torbogen kommt. Noch immer groß, dunkel, schlank, noch immer lächelnd – er winkt mir.

Hin und wieder hatte er auch den anderen Bus genommen, gestand er und jener Blickkontakt beim Volleyballmatch hatte ihn ebenfalls elektrisiert. Auf die Firmung hätte er sich so gefreut, erzählte er, da würde er mich wiedersehen, war er sich sicher, in der Pfarrkirche im kleinen Dorf. Und so hatte er zum ersten Firmunterricht die coole Jacke angezogen und die Sonnenbrille und mit dem Zehngangrad war er gekommen, um zu imponieren. Mich haben sie im Dom gefirmt mit anderen Bürgerkindern. Da hatte ich seine Zeichnungen schon von den Wänden genommen.

Es fühlt sich tatsächlich wie ein Wiederfinden an nach all den Jahren, ohne Peinlichkeiten, ohne Verlegenheit, ohne Stress und neben der ersten kleinen großen Liebe begegnet mir auch das Mädchen wieder, das ich einmal war. Am nächsten Tag fliegt er zurück in seine neue Heimat, weit weg. Mir bleibt ein besonderer Abend und das Wissen, dass all meine Lieben – von der allerersten angefangen - „richtig“ waren.

Unter denen, die ich geliebt habe, ist niemand, mit dem ich nicht gerne noch immer einen Abend verbingen würde. Ich bin stolz und glücklich, sie in meinem Herzen und meinen Armen gehabt zu haben. Ich freue mich über alles, was ich von ihnen nehmen und lernen durfte. Und irgendwie werde ich sie alle ewig lieben.

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2327 mal erzählt

28
Jun
2010

Es war einmal Antigone

Wir saßen uns an einem der winzigen Tische des Alt-Wiener Kaffeehauses in der Provinzstadt gegenüber. Rosa Marmor mit abgesplitterten Lack. Damals war es mir Heimat, das alte Traditionskaffee. Dort wohnten die, die mich das Leben lehrten und immer öfter durfte ich bei ihnen sitzen. Ich war ein hübsches Mädchen, ein verhurtes Gretchen wie der Prinzipal später einmal meinte, als er kurz erwog, mich im Faust zu besetzen. Eine belesene Lolita in Mutters grünem Tweedkostüm aus den 60er Jahren oder Vaters alter Lederjacke. Original Clarks an den Füßen, weite weiße Hemden, ebenfalls von Papa, schwarze Rollkragenpullis und enge Jeans. Ich rauchte Smart Export und Selbstgedrehte, trank Weiß Gespritzt und war Liebkind des Oberkellners, der schon mal einen Tisch für mich räumte und sein Proviantglas bei mir abstellte.

Das Central war meine Bühne in jenen Jahren. Meine Mitakteure, mein Publikum werde ich nie vergessen. Einer hat den Schwermetallgehalt in Schnecken gemessen und hatte Statist als Berufsbezeichnung im Pass stehen, eine war Schauspielerin und harzte Beine, einen liebte ich, weil er hässlich war und mich das rührte, einer war ein berühmter Arzt, der Jahre später meiner Mutter Schlaganfall behandelte, einer war der Vater des Frettchens, das ich später liebte, auch weil mir sein Gesicht so vertraut war, einer war Ethno-Botaniker und vertraut mit Tollkirsche und Fliegenpilz, einer war Journalist, stets auf der Jagd nach Naturkatastrophen, einer war das Auge, das mich mich selbst schön sehen lehrte, eine war seine Freundin, Krankenschwester im Irrenhaus, einer war der Erste und ich liebte ihn, eine seine Freundin und sie wusste es wohl nicht.

Einer war der Prinzipal, dem ich an diesem Abend alleine dort begegnet bin. Uns verband die Liebe zum Theater und die Liebe zum Ersten. Er hatte ihn – lange vor mir - (geliebt) den Ersten in seiner androgynen Schönheit und seiner Sinnlichkeit. Wie er mich wahr genommen hat, weiß ich nicht, ich war wohl eine Art hübsches Spielzeug, dass „seine Buben“ ins Theater geschleppt hatten, einmal auch zu ihm nach Hause zu einem Filmabend, das einzige Mädchen war ich, durfte ich sein. Doch nie vorher und nachher haben wir so gesprochen wie damals an diesem Tisch. Nicht über ihn, den wir liebten. Über Theater und über Ödipus. „Hätte es Jocaste nicht wissen müssen, dass der mit den durchbohrten Füßen ihr Sohn ist, dass sich die Prophezeiung erfüllt und hat sie sich schließlich erhängt, weil ihre Lüge aufflog?“ fragte er.

In meinem Bücherregal steht noch immer die Antigone von Jean Anoulih – sie war wohl damals auch Teil unseres Gespräches, sie hat mich bewegt und fasziniert. Das Buch hat meinem Vater gehört: „Dem jungen Doktor alles Gute für die Zukunft. Schützenheil. Weihnachten 1953“ steht drinnen, mit schwungvoller Unterschrift, jedoch unleserlich diese. Und ich seh mich wieder in meinem fremden Kinderzimmer stehen, das aufgeschlagen Buch in Händen, die Türe zu, nicht verschlossen - Schlüssel brauchen wir nicht - deklamierend. Ganz Antigone, die Tochter von Ödipus, aus voller Seele und voller Überzeugung: „Ihr widert mich alle an mit Eurem Glück! Mit Eurem Leben, das man lieben muss, koste es was es wolle. Man könnte meinen, es wären Hunde, die alles belecken, was sie finden. Diese kleine Chance für alle Tage, wenn man nicht zu anspruchsvoll ist. Ich will alles, sofort – und ganz. Oder aber ich verweigere es. Ich will nicht bescheiden sein und mich mit einem kleinen Stück begnügen, wenn ich schön brav gewesen bin. Ich will heute sicher sein, daß es alles sei und daß es so schön sei wie damals, als ich ganz klein war – Oder sterben.“

Weiter hinter im Buch finde ich eine Postkarte aus Fatima. Johannes Paul II segnet. Sie stammt von jenem alten Priester, den ich einst, bei den Toleranzgesprächen kennen gelernt hatte, und der mich – in seinen Briefen aus Brasilien für eine „Schwester im Geiste“ hielt. Ich war nie mutig genug, ihn aufzuklären, dass ich das wohl eher nicht bin. Ich war nicht einmal mutig genug, den Kontakt aufrecht zu erhalten.

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Auf der Karte steht: „Dir liebes Kind widme ich diese Karte. Bleib deinem Leben treu. Widerstehe der Versuchung.“
Ein getrocknetes Rosenblatt fällt aus dem Buch.
943 mal erzählt

5
Mai
2010

Der Kuss

Und plötzlich steht da dieses Paar und küsst sich. Mitten am Tag. Mitten am Stadionparkplatz, öffentlich und doch verborgen. Ich sehe sie schon von weitem, sie sind leichter von der Seite aus zu sehen, aus der ich herbeihumple. Jeder Schritt tut weh. Irgendwann nächtens habe ich mir eine Zehe blau gehauen, die Zeigezehe links und so gehe ich unter Schmerzen meines Weges. Auf die Küssenden zu, an ihnen vorbei. Ich habe somit Zeit, sie zu beobachten, ohne sie anstarren zu müssen, auch wenn sie das nicht bemerkten würden, so versunken sind sie ineinander. Und selbst, wenn sie ihre Lippen zwischendurch voneinander lösen, nur um ein wenig zu Schnäbeln, kleine Schlucke von der Seele des, der anderen zu trinken, nehmen sie wohl nichts wahr, außer diese Lippen und ihre warmen, hungrigen Zungen, den Atem des, der Anderen und die Sehnsucht eins zu werden. Warum sie ausgerechnet hier küssen, am verlassenen Parkplatz, wundere ich mich, eine heimliche Affäre vielleicht, ein überraschendes Wiedertreffen - kein Rendezvous, nicht hier unter der U-Bahn, angesichts des Stadions, nein kein Rendezvous. Ich bin froh, dass sie mich nicht bemerken, meine neugierigen, neidigen Blicke. Will auch, rollt sich meine Zunge im eigenen Mund, und meine Lippen schnappen ins Nichts. Der Mann fasst nach, zieht die Frau noch näher an sich, zwischendurch ein Blick in die Augen und dann weiterküssen, niemals aufhören. Ich weiß genau wie sich das anfühlt. Darum dreh ich mich noch einmal nach den Beiden um, bevor ich die U-Bahn Station betrete. Sie haben nicht aufgehört zu küssen. Wir schon. Darum weine ich ein wenig. Oder auch bloß, weil mir die Zehe so weh tut.


BerlinGraffity
2786 mal erzählt

1
Apr
2010

Welcome to the wonderland

Das Wetter war, glaube ich, ähnlich, gestern vor 20 Jahren, als ich im Auto unterwegs in mein heutiges Leben war, regnerisch trüb. Ich war unterwegs nach Bratislava, um dort Privatradio zu machen. In Österreich war das damals nicht möglich, wegen der Monopolstellung des ORF und so mussten wir in die Stadt hinter dem eisernen Vorhang, der erst kurz zuvor hochgegangen war, ausweichen. Wir: ein Häufchen Irre, handverlesen.

Ich hatte bereits Radioerfahrung, beim Monopolisten im Regionalfunk, manchmal sogar ein Beitrag österreichweit und war dabei als Seitenblickerin Fuß zu fassen und kellneriert habe ich auch noch, als mir die Anzeige in die Hände gefallen ist, mit der GR ein Team für einen neuen Radiosender suchte. GR, dessen Brummton im „Wecker“ mich für die Schule geweckt hat. Mr. Hard Rock, der mir so manches „Scheibchen“ nahe gebracht hat. Und Radio, das geliebte Medium, das durch die Ohren in den Kopf dringt und zärtlich Bilder aus dem Gehirn massiert. Ganz wild und neu und nicht öffentlich rechtlich, wie ich es kannte, mit Tontechnikern in weißen Mäntelchen und gefährlichen Intrigen.

Ich hatte es geschafft, drei Castingrunden überstanden, inklusive Kampftrinken und saß an diesem Samstagmorgen in meinem weißen R4 und hörte die vertraute Stimme auf 101,8 Megaherz. Zugegeben der Opener war ein wenig peinlich…aber es folgten die wohl schönsten Jahre meines Lebens. Sex&Drugs&Rock’n Roll – was waren wir für eine einzigartige Mannschaft, die im noch ostblockgrauen Bratislava arbeitete, lebte und liebte.

Der Altvater GR, der so manchen Rausch dirket auf der Redaktionscouch ausgeschlafen hat, der uns erwählt und zusammengeschweißt hat, „Moderatoren bekommen Schweigegeld. Ihr seid Wurstsemmelverkäufer, nicht mehr. Zeit ansagen.“ Der große weiße Vogel, seine tierverrückte Assistentin, blond und lang beinig , von ihm verehrt, heiter und gütig, die Wüstenspringmäuse, die Perserkatze. Fatzka. Der Kopf des schönen Herrn G. auf meinem Schoß. Herr Locke und die Liebe. Pete, the animal, und Rudi Rüpel, beide mit Austropopvergangenheit. Der Wurmige mit seinen Frauen und später der Schurl als Chef und der Stadelmann. Hermine mit so viel Seele und das kehlige Lachen von Doris, Püppchen schien sie mir und ist so eine tolle Frau geworden. Marieli und Herr F. Und Pippi. Und Miss As Küsse. Und Axel, der fein gebildete und Sträußel, unsere Techniker der schlaue Jan, die aufgeweckte Vera und Roman, der Ruhige… und …und… und…Frühschichten und Schneechaos, Vyprazany syr und Becherovka, Ronnie Urini und Ballroom Blitz und die Sweet selbst, lieve in Bratislava am 1. Mai 1990 - alte Männer in engen Hosen...und ..und…und heiße Küsse und tanzen am Tisch, sich unter den selbigen trinken, Huren und Pabstbesuch…Leben im Hotel, in Wohnungen in Häusern und manchmal in Wien. Meist dazwischen. Der Liebste seit damals an meiner Seite, und auch den Erstgeborenen habe ich dort wieder gefunden, im Wonderland.

Und Radio machen, Radio machen, Radio machen: chaotisch, improvisiert, erfindungs- und einfallsreich, mit Lachkrämpfen und Spontanübersetzunegen, Beitragsübermittlung aus der Telefonzelle und heruntergebrochene Tonbänder, ganz nah bei den HörerInnen, auch wenn wir im Bauch der umgekehrten Pyramide, das ferne Wien nur ahnen konnten. Wir fühlten uns ein wenig wie PiratInnen und die Leute mochten uns. Wir bekamen Fan-Post und gute Quoten, auch denn es der ORF nicht wahr haben wollte.

Später dann gings auf und ab, mit der Bezahlung, mit den slowakischen Regierungen, mit dem Sender. Als wir in Mörtels Einkaufszentrum übersiedelten, war ich nicht mehr dabei.

Viele der Menschen von damals sind mir geblieben, sie und die Erinnerungen an "Mein privates Radio!"

Skandal
867 mal erzählt

4
Feb
2010

Verlustanzeige

Mir
fehlen
die Worte...

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760 mal erzählt

21
Jan
2010

Flügel-Los

Manchmal spüre ich schmerzhaft deutlich die Stelle, wo meine Flügel waren. Besonders nachts vor dem Einschlafen, wenn ich wie stets das rechte Bein hoch angewinkelt halb auf dem Bauch liege. Dann tun die beiden Stumpen auf meinem Rücken besonders weh.

Und dann würde ich sie so gerne weit ausbreiten, meine Schwingen, Feder für Feder spreizen, einen kleinen Sturmwind entfachen und die Flügel dann behutsam wieder zusammen falten, aber da sind nur die Stumpen … und die Erinnerung ans Fliegen. Und der Schmerz.

Ob ich einst ein Engel war? Nein, beileibe nicht. Schönes Wort eigentlich beileibe und so passend. Ich war nie ein Engel, ein komischer Vogel vielleicht, manchmal sogar ein Phönix aus der Asche, seltener eine Art Pegasus, würd ich mir wünschen, ein wenig Harpyie, vielleicht auch nur ein Elfenwesen, nicht rosa-glitzernd, sondern rotzig, frech und schelmisch, wie es noch immer in mir flattert, eingesperrt im Käfig, meinem Körper.

Phantomschmerzen plagen mich, seit ich eines Morgens erwachte, meiner Flügel beraubt. Keine Ahnung ob sie mir nur gestutzt wurden oder gar gebrochen, ob man mir Feder für Feder einzeln ausgerupft hat – Alouette, gentille Aloutte – ob sie wie bei Hunden coupiert wurden oder gar in einer Schönheitsoperation amputiert.

Vielleicht war es aber auch ganz anders, vielleicht sind sie verkümmert, weil immer seltener genutzt, abgefallen, und ich habe Feder für Feder verloren, bis sie einfach weg waren und nur die Schmerzen blieben und die Erinnerung.


Fluegerl
1288 mal erzählt
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Mock Turtle

Sit down, both of you, and don't speak a word till I've finished

Who sits there?

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Im Bilde

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Soundtrack

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Wenn ich schon geahnt...
dass ich an jenem Zuhause angekommen bin. Ich liebe...
katiza - 22. Feb, 15:42
Alle Kraft für ihn!
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froggblog - 10. Sep, 11:46
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datja - 18. Jul, 18:34
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Lieber Yogi, ein bisschen frivol der Geburtstagsgruß...und...
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