Lebens-Wert

15
Feb
2009

Spurensuche

So gerne hätte ich Kunst gemacht, irgendwas Unsterbliches, was bleibt. Und doch ist es mir nie gelungen. Die Gründe dafür sind wohl ebenso mannigfaltig wie einleuchtend: zu wenig Talent, zu wenig Zeit, zu wenig Engagement, zu wenig Konsequenz, zu wenig Leid, zu wenig Kraft.

Und so habe ich mich auf die Funktion der Muse beschränkt, um meine Spuren am Parnass zu hinterlassen. Stolz blicke ich zurück auf lautes Kreischen bei einem Live-Mitschnitt, zwei Danksagungen in längst vergriffenen Büchern, ein Zitat in einem jüngst erschienen, Credits am jüngsten Werk des Erstgeborenen – das ist mein Quäntchen an Unsterblichkeit.

Vielleicht hat der Sänger nach jener Nacht vor langer Zeit bei einem seiner Songs an mich gedacht, vielleicht hat der traurige, junge Dichter mir eines seiner verzweifelten Wortgewitter gewidmet, vielleicht hat der Maler seine Enttäuschung in Farben gegossen – das weiß ich nicht und muss ich auch nicht wissen.

Allein die Möglichkeit zählt in Fragen der Unsterblichkeit.

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1
Feb
2009

Zen oder die Liebe

Allein mit der Mutter, ihrem Schmerz, ihrer Einsamkeit, ihrer Angst. Heute morgen die Erkenntnis: Es ist nicht anders als Sitzen. Einfach hinnehmen, annehmen, wozu Widerspruch, muss ich mich doch nicht verteidigen, sie wird mein Leben nicht ändern, dass sie es versucht ist legitim: Sie hat es mir geschenkt. Und so gehorche ich, nicht voreilig, eifrig und aufgeregt wie früher sondern auf Zuruf. Ich höre auf um meine Erinnerungen zu kämpfen. Auch wenn ihre anders sind, sind meine nicht mehr oder nicht weniger wahr. Wir trauern um denselben, doch jede hat ihre Trauer, jede spricht mit einem anderen, nur selten treffen wir uns. Wenn der Schmerz groβ ist, verletzt sie, das war schon immer so. Scharf und spitz werden ihre Worte dann, die sie erst nach mir und wenn das vergebens ist, nach jenen, die ich liebe, schleudert. Und doch sind diese wohlplatzierten Nadelstiche eigentlich nicht anders als das scheinbar unerträgliche Jucken an der Nasenspitze, der eingeschlafene Fuβ, wenn ich sitze. Ich atme aus. Sie ist meine Meisterin - nicht fragen, nicht widersprechen. Das hieβe nur den Affen Ego zu füttern.

Wer bin ich, zu glauben, dass ich die Mutter ändern kann, dass ich irgendjemanden,irgendetwas ändern kann. Die Zeit die uns noch bleibt, bleibt mir sie zu lieben.

Und Auszuatmen.

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476 mal erzählt

27
Jan
2009

Glück und Glas

Wenn Väter und Söhne, Freundinnen und Seelenverwandte, gleich mehrere Generationen an einem großen Tisch mit Seele Gekochtes gemeinsam verspeisen, hat das immer etwas von einem Familienfest. Und so war es auch bei diesem Essen, das zu meinen Ehren statt fand. Viel Liebe habe ich erfahren, Wärme und Herzlichkeit. Und doch war es mir, als würden sie eine andere feiern, die wilde, lustige Grenzgängerin, die vom Kalenderbild des Vorjahres lacht.

Am Tisch saß die Tochter, die ihren Vater vermisst, der an einem Sonntag im September alle Sicherheit verloren ging, weggerissen wie in dem Zaubertrick, wo einer ein Tischtuch vom Tisch zieht und das Geschirr bleibt stehen. Man kann noch immer essen und trinken an dem Tisch, eine Milchkännchen ist vielleicht zerbrochen oder eine Zuckerdose, sonst hat sich wenig verändert. Der Klang vielleicht, Besteck und Gläser machen Geräusche, wenn man sie auf dem nun mehr unbedeckten Tisch abstellt, verschütterter Wein breitet sich aus, fließt vielleicht sogar zu Boden, würde mir das Glas aus der Hand fallen, würde es den Tisch beschädigen, wenn es an ihm zerschellt. Und davor habe ich Angst. Die Vatersangst, die mich sicher macht, während einer Rede, eines Vortrags, die mich zittern lässt im Gespräch mit Freunden.

Es könnte mir ja das Glas aus der Hand fallen. Es kann immer etwas zu Bruch gehen.
Und wenn es fällt und wenn es bricht, wird alles anders sein. Und nichts.


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610 mal erzählt

16
Jan
2009

Rosaroter Frauen-Kram

Was meinen Körper angeht, geht es mir wie den meisten Frauen: Ich bin nicht ganz zufrieden. Die Oberschenkel sind zu fett, das darüber soundso - auch wenn der Liebste das Gegenteil behauptet. Auch die Waden könnten schlanker sein, meine Taille ist ähnlich platt wie meine Füße, die breiten Schultern und der dicke Hals (Blähhals nannte ihn die Mutter) tun ihr Übriges zum Gesamteindruck. Aber mein Busen. Mein Busen ist wunderschön.

Das war nicht immer so. Konrad haben die Jungs die Mock Turtle genannt, wegen der knabenhaften Figur und wohl auch wegen des bubenhaften Auftretens. Wie beneidete sie beste Freundin um die vollen Brüste. Eine Handvoll und nicht mehr, mehr davon ist ordinär, tröstete die Mutter. Aber wessen Hand, überlegte die Turtle, und ob ordinär in dem Fall wirklich so schlimm wäre, bezweifelte sie auch. Irgendwann hatte die Göttin dann doch ein Einsehen und er ist gewachsen.

"Du hast meinen Busen geerbt", erklärte Mama stolz, denn ihrer ist noch jenseits der 70 stramm, fest und rund. So wie meiner, der einen BH eher zur Betonung als zum Halt braucht. Ich zeig ihn gerne her unter engen Bodies oder fein angerichtet im Dekolletee. Und ordinär ist er noch immer nicht, voll und schwer passt er genau in die Hand des Liebsten. Meine Brüste haben kecke kleine Spitzen. Sie gefallen Männern und das gefällt mir. Ich genieße es.

Besondere Sorgen habe ich mir nie gemacht, war zwar theoretisch wohl informiert aber praktisch sah ich wenig Grund zu regelmäßiger Brustuntersuchung. Erst als die Cousine Brustkrebs bekam, wurde ich nervös. Aber die Verursacher der Ängste entpuppten sich als harmlose Zysten. "Unterfutter für meinen Busen" nannte ich sie und versuchte mir die Knötchen als eine Art internen Wonderbra schön zu reden. "Fibrozystische Mastopathie" lautet die Diagnose - mostly harmless.

Nur manchmal werde ich nervös, wie jüngst als sich auf der Linken etwas entzündete. Im Gegensatz zu manch anderen Frauen habe meine keine Namen, sie heißen weder Ernie und Bert noch Hans und Franz sondern einfach die linke und die rechte Brust, gern auch das Brüstel. "Kein Grund zur Panik" sagt die Ärztin und "nur zur Sicherheit" solle ich den Busen untersuchen lassen. Unsicherheit macht sich in mir breit. "Am besten Morgen" ergänzt sie und die Furcht steigt in mir hoch. Das ginge nicht, räume ich ein und wir einigen uns auf den erstmöglichen Termin, drei Tage später - heute.

Als ich ihr Zimmer verlasse, treffe ich im Warteraum eine Ex-Kollegin. Brustkrebs fällt mir ein, während ich sie erkenne, weil ihre Mutter dran gestorben war, hatte sie sich immer vor Brustkrebs gefürchtet. "Vor vier Jahren", erklärt sie wenig später und erzählt von mehreren Operationen. Ich höre nicht wirklich zu, überlege: Hat sie mich an ihren Busen gedrückt? Und plötzlich ist die ganze Welt rosarot, Pink Ribbon Kampagnen in jeder zweiten Zeitung, überall das Wort Brustkrebs, ich sehe auf der Straße Frauen, die Kopftücher nicht aus religiösen Gründen tragen und solche, deren Gesicht die Spuren der Chemo aufweist. Keine Panik, sage ich mir und fürchte mich doch. Der Mutter sag ich nichts, soll sich doch Mama nicht Sorgen um meine Mamma machen.

Im öffentlichen Krankenhaus, in dem mir die Ärztin einen Termin bei ihrer Kollegin zur "Second Opinion" verschafft hat, warte ich. Überall rosarote Brustkrebsbroschüren. Ich blättere ein wenig darin herum. Alles schon tausendmal gelesen, selbst Informationen zusammen gesucht im Job, privat. Keine Lust das Feuer der Angst damit weiter zu schüren. Paare huschen vorbei, türkischer, arabischer, afrikanischer Herkunft. Die Männer begleiten die Frauen mit den Kopftüchern und den langen Mänteln, sprechen für sie, selbst der Sprache nicht wirklich mächtig. Ein junges Paar untersucht neugierig ein Werbegeschenkspaket für die Schwangerschaft. Sie wirken nicht glücklich, erfreut vielleicht, aber nicht glücklich. Die Frau rechts neben mir, die allein da ist, hat das gleiche Paket. Sie packt nicht aus. Sie wirkt nicht traurig, müde vielleicht, aber nicht traurig.

Endlich werde ich aufgerufen. Viel zu laut schließe ich die Türe hinter mir und mache wie geheißen den Oberkörper frei. Meine Brüste wölben sich mir aus dem fleischfarbenen BH mit den festen aber nicht harten Schalen entgegen. Heute wollte ich sie schützen und stützen. Ich streichle noch einmal schnell über die böse Stelle und dann im Ausgleich die andere Brust auch noch. Ich liebe meinen Busen.

Kurz darauf fährt die Ärztin mit dem Ultraschallscanner über meine gegelte Brust. Eine sympathische Frau um die Fünfzig mit beruhigender Ausstrahlung und graugrüne Augen hinter den dünnen Brillen. Tausende Frauen sind wohl schon so vor ihr gelegen, tausende Brüste hat sie gescannt, Mein Blick pendelt zwischen dem Bildschirm und ihrem Gesicht. Der Bildschirm zeigt Mondlandschaften mit Kratern. Die Krater sind die Zysten. Sie misst sie ab, spürt sie auf, fragt nach, erklärt. Verhärtungen, Verkalkungen, kein besonderer Grund zur Beunruhigung, aber sicher ist sicher.

Ob ich es noch drei Wochen aushalten würde, die Ungewissheit, will sie dann wissen. Oder ob ich gleich heute eine Gewebeprobe entnehmen lassen möchte. "Das erhöht gar kein Risiko", versichert sie mir: "Selbst wenn es böse wäre. Aber viele Frauen ertragen die Unsicherheit nicht." Ja ich warte, entscheide ich. Ob jetzt oder später, nichts ist sicher, alles ist unsicher, que sera, sera.

Ich lass mir nicht gern ins Brüstel stechen, ins linke.
"Vielleicht ist nur unser Herz ein wenig geschwollen", mutmaßt die Mock Turtle.

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1098 mal erzählt

24
Dez
2008

Frohes Fest

Ich wünsch Euch einen Baum voll bunter Träume, voll herzerwärmender Kerzen, voll fantastischer Sternspritzer, voll Zuckerwerk und Schokoschirmchen, voller selbst erfüllter Kinderträume und ein ebensolches neues Jahr.

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Schön, dass es diese Welt und Euch gibt!
879 mal erzählt

18
Dez
2008

Vintage

Da sind sie wieder, die Vintage-Ängste.
Übertragen,
in mühevoller Handarbeit angepasst
an die eigene Seele,
Stich für Stich,
fast wie neu,
edle Stoffe,
liebevoll gepflegt
kaum eine dünne Naht,
da oder dort ein gebrochener Saum,
ein Brandfleck,
die Farben verblasst,
abgewetzter Samt.
Aber Designerstücke,
erstklassige Qualität,
nichts Billiges aus Sweat-Shops in der dritten Welt,
hergestellt in Kinderarbeit.

.Sie passen noch immer, wie angegossen.


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427 mal erzählt

4
Dez
2008

Drowned

Und kein Ende. Fast schon keine Tränen mehr. Der Moser ist tot. Ertrunken in Vietnam.

Plötzlich stand er neben mir. Ein blond gelockter, fröhlicher Bär mit blitzenden Augen. Er legte einen Stapel Schallplatten neben die Revox, Haindling, Capers, Söllner und allerlei Rares mehr und begann zu reden. Der Moser eben. Später fuhren wir gemeinsam zur Holzalm Vikt, einem heimischen Original. Ich machte eine Radioreportage fürs Tiroler Sommerradio, mein Ferialjob und Einstieg in die Branche. Die Frau hatte ihr Leben auf der Alm verbracht als Sennerin und Hüttenwirtin und erzählte jede Menge Geschichten, die mir der Moser dann im Studio übersetzen musste. Ich habe den Dialekt kaum verstanden. "Und wenns nit wohr isch, isch ös aft guat dalogen", beendete sie jede ihrer Geschichten.

Dem Moser gefiel ich und so unternahm er viel mir zu gefallen. Und so wie er mich für Tirol und Musik begeistern konnte, begeisterte er mich für sich. Der Moser war per Du mit der Welt. Er war per Du mit dem Leben. Das muss nicht immer schön sein. Aber mit Gedanken darüber hat sich der Moser nie aufgehalten. Er war kein Jammerer, manchmal war er vielleicht ein Angeber. Er wirkte vielleicht hin und wieder wie ein Dampfplauderer, aber diese heiße Luft bewegte eine Menge. "Ehrlich."

Plötzlich wohnte er in meinem Heimatort. Manchmal spazierte ich abends zu ihm und wir tranken und rauchten. Eine Freundin lebte bei ihm und seltsame Bands bevölkerten die seltsame WG. "Half Japanese" fallen mir ein. Abende im Bogen 13. Trommeln eines indischen Bergbauern. Jamaikanischer Glühwein. Die ganze Welt war für den Moser ein bissl wie die Wildschönau. Und umgekehrt. Van Morrison und Georgie Fame. Ein Abend in der Diana-Bar. Der Moser hatte "heißen Dienst" für die lokale Nachrichtensendung. Und den zweiten Whiskey. Er wurde ausgepiepst. Im Oberland sei eine Sennerin abgestürzt. Er solle ausrücken. "Und was soll i tuan? Weinende Kiah filmen?" Sein meckerndes Lachen ertönte. Wie wenn er davon erzählte, dass er verwarnt wurde, weil er einen Beitrag über Hochwasser in Innsbruck mit "Bridge over troubled water" unterlegt hatte. "Ehrlich", und er rollt die Bärenaugen. Er hat mich seiner Familie vorgestellt, in Brixlegg, der Mama und den Geschwistern mit den knuffeligen Moser-Gesichtern.

Aber verliebt war ich dann in einen anderen. Und als ich ihn küsste in Mosers Wohnung bin ich mir wie eine Betrügerin vorgekommen. Aber ich habe weiter gemacht. Ich war ja ein böses Mädchen. Der Moser ist mein Freund geblieben.

Plötzlich läutete er an meine Wiener Wohnungstür. Er wolle endlich das Beisl sehen in dem ich arbeitete, lachte er und stolperte mit einer Flasche Meisterwurz in mein Leben. Wir haben dann das G-Punkt versenkt und eine Kollegin aus dem Schlaf geklingelt. Ich schmecke Schnaps, wenn ich nur an diese Nacht denke. Ich hör den Moser meckern und sehe in seine Bärenaugen. Ich weiß bis heute nicht, ob wir miteinander geschlafen haben in meinem klapprigen Messingbett. Er hat gemeint: Ja "Ehrlich".

Plötzlich saß Mosers Schwester in der Daily Talk Show. Biobäuerin und unglücklich. Und der protzige Kollege, der sie im Luxushotel vögelte und ihr Leben ins wanken brachte. Und da war der Moser wieder da. Er und der Teufel wohnten zusammen. Bei den kostbarsten Menschen, den liebenden GrenzgängerInnen traf ich immer wieder den Moser. Und immer war er auch Tirol, im positivsten Sinn für mich. Er erschien mir wie jene Zillertaler Sänger, die im 19.Jahrhundert mit ihrer Musik die Welt bereisten.

Ich seh ihn auf meiner Hochzeit stehen, ein Sektglas in der Hand. Er sitzt mit einem Schnapsglas bei uns im Wohnzimmer. Kostbare Musik am Tisch ausgebreitet: Die Knödel, Dienz, Dancehallfieber, Texta, Attwenger, Sean Paul, begeistert und begeisternd. Immer, wenn etwas sehr gut und auch schräg war, hatte der Moser seine Finger im Spiel. Besessen von Musik und den Menschen die sie machten. Immer, wenn ich nicht damit rechnete, war der Moser plötzlich da. Fünf Stunden Speisewagen zwischen Wörgl und Wien. Kiffen am Klo zwischen Wien und Innsbruck. Konzerte, Szene, Feste. Einmal Silvester haben wir uns am Flugahfen getroffen. Er kam aus Jamaica, wir wollten irgendwo hinfliegen, egal wohin. Immer plötzlich, nie überraschend und schon gar nie erschreckend. Oft zu zweit, mit Birgit, seiner Frau. Das strahlende Erkennen, die feste Umarmung, Haare aus dem Gesicht streifen. "Ha, Du?" Meckern. "Ehrlich."

Plötzlich ist er vom Meer geholt worden. So viele Abschiede ohne Wiedersehen, ach Christoph. Moser. "Ehrlich."

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3099 mal erzählt

18
Okt
2008

Herbst-Zeit-Los

Und plötzlich findet sich die Mock Turtle auf der Mad Tea Party. Die Zeit, meine alte Vertraute, scheint mir fremd geworden. Dabei verstanden wir uns gut, seit mir mein Vater als Kind meine erste Armbanduhr geschenkt hatte. Die Zeit war immer auf meiner Seite. Und ich respektierte sie. Bemühte mich, sie niemandem zu stehlen und sie auch nicht totzuschlagen. Manchmal ließ ich sie ungenutzt verstreichen, manchmal sogar verfliegen. Aber nie hatte ich den Eindruck, dass sie das stören könnte. Ich ging mit ihr. Und ich mochte ihre Töchter. Gerne spielte ich mit der Vergangenheit und der Zukunft, verkleiden meist und manchmal verstecken. Seltener mit der stillen Gegenwart, die oft blass um mich herumstrich. Doch ich mochte auch sie. Die vierte Tochter, die berühmte Wahrheit, kam nur selten zu Besuch, so dass ich sie nicht immer gleich erkannte. Ich mochte die Zeit, auch wenn sie manchmal verrückt schien. Ich lebte durch die Zeit.

Mit der Zeit aber geriet ich immer mehr in die Zeit. Die Armbanduhr legte ich ab, denn die Zeit war elektronisch geworden und allgegenwärtig – sie war digitalisiert und so vertraut und fremd zugleich. Vergangenheit und Zukunft erschienen mir plötzlich als eitel, oberflächlich und manchmal gar geschwätzig. Und so lernte ich die Gegenwart mit ihrer ruhigen Schönheit mehr und mehr zu schätzen. Sie brachte mir auch ihre Schwester Wahrheit näher, die ich jetzt viel öfter sah – wenn sie es war. Ich nahm mir Zeit für mich. Vielleicht hat sie mir ja das übel genommen.

Denn seit jenem Anruf spielt sie verrückt. Sie und ihre Töchter tanzen um mich. Manchmal schreien sie durcheinander, manchmal verstecken sie sich. Sie stoßen zusammen und laufen davon. Und doch bräuchte ich sie gerade jetzt so sehr – um alle Wunden zu heilen, um mit Rat zu kommen, um mich mit ihrem engen Korsett vor dem auseinander fallen zu beschützen. Wo sind die Zeiten hin?

Ich trage die letzte Armbanduhr meines Vaters. Ich habe Zeit.

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1232 mal erzählt

21
Sep
2008

An einem Sonntag im September

Er war ich
Ich bin er.
Er war.
Ich bin.

Worte können die Lücke niemals schließen,
die mein Vater hinterlassen hat.

Seine Stimme fehlt mir, mich zu fragen.
Seine Augen, mich zu spiegeln.
Sein Lachen, mich zu wärmen.
Seine Tränen, mich zu berühren.
Seine Hände, mich zu halten.
Der Daumen, der mir ein Kreuz auf die Stirn malt.

Er war Ich bin Er.
Ich bin.

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1277 mal erzählt

19
Aug
2008

Renovierung

Wir renovieren die Wohnung. Nach 15 Jahren wird ausgemalt. Das erledigt Herr G., ein alter KPÖ-Funktionär mit einer Leidenschaft für Kuba. Räumen müssen wir selbst. Und so wälzen wir unser Leben durch die hohen, großen Räume, vom Büro ins Wohnzimmer und zurück. Dabei wird aussortiert: Ich trenne mich von Lieblingsschuhen, die nicht mehr repariert werden können, von Pressunterlagen, die keinen mehr interessieren; ich werfe sogar Bücher weg, Musikkassetten mit Interviews, ohne sie ein letztes Mal auf dem einzigen Kassettenrekorder der Wohnung anzuhören (andere behalte ich, wohl wissend, dass ich auch sie wohl nie mehr hören werde, aber…), Filmbänder und Videos, Garantien und Gebrauchsanweisungen für Geräte, die es nicht mehr gibt, sogar Bücher; Hochzeitsanzeigen von längst Getrennten kommen ebenso ins Altpapier wie Geburtsanzeigen von Kindern, die schon zur Schule gehen, Weihnachtsgrüße und Postkarten, auch Partezettel von Menschen, die schon zehn Jahre tot sind, das fällt am schwersten, seltsamerweise, dazwischen Bilder, auf denen ich neben Menschen sitze, die ich noch nie gesehen habe.

Das alles muss zügig gehen, weil ich sonst Mitleid bekomme mit den Dingen, mit CDs, Kassetten, ungeliebten Geschenken, Büchern und alten Schuhen. Schuhe gebe ich in die Humanabox, Taschen, Tonträger und lieb gemeinten Kitsch stelle ich auf den Gang in der Hoffnung, dass sie doch irgendwo weiterleben, vielleicht sogar geliebt werden.

"Befreiend", sagen die Leute, wenn ich ihnen davon erzähle und ich stimme ihnen zu. Bald ist mein Leben wieder wie frisch gestrichen, weiß mit zehn Tropfen Ocker.

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1260 mal erzählt
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Mock Turtle

Sit down, both of you, and don't speak a word till I've finished

Who sits there?

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Im Bilde

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Soundtrack

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Gruß nach drüben
Der Vater - der großartige Walter Deutsch ist am 13....
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dass ich an jenem Zuhause angekommen bin. Ich liebe...
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viennacat - 14. Aug, 18:27
Soooo schön und berührend....
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Gruß nach drüben
Der Vater - der großartige Walter Deutsch ist am 13....
katiza - 18. Feb, 16:53
Wenn ich schon geahnt...
dass ich an jenem Zuhause angekommen bin. Ich liebe...
katiza - 22. Feb, 15:42
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