Lebens-Wert

17
Sep
2007

Atem-Los

Ich habe immer davon geträumt, das Leben in vollen Zügen zu genießen.
Atemlos wollte ich sein vor Staunen, Glück und Freude,
nach Luft schnappen, vor Entzücken.
Und so habe ich gekeucht und geseufzt,
geschrieen und geflüstert,
gejuchzt und gekreischt,
gehechelt,
ge- und verschnauft,
mehr als einmal tief Luft geholt und dann die Luft angehalten,
und jeden Atemzug genossen, bis es mir den Atem verschlagen hat.

A bout de souffle und
Yes, I did inhale.

Und dann habe ich ausatmen gelernt – jetzt kann ich aufatmen.
Mein Atem-Los hat sich gewendet.
960 mal erzählt

11
Sep
2007

Mit sanftem Fingerdruck

Ich erwartete sie schon, fast sehnsüchtig und freute mich, als sie endlich da war. Und dann lag ich neben ihr, ein letzter Blick in ihre großen Augen, bevor ich meine schloss, um mich ganz hinzugeben. Ihre Hand auf meinem Bauch. Leise aber nicht flüsternd stellte sie Fragen nach längst vergessenen Schmerzen und aktuellen Leiden. Dann schwiegen wir beide. Nur unser Atem war noch im Raum zu hören. In dessen Rhythmus begann sie mich zu berühren, fest und sicher, mit ihren warmen Händen, mit den wissenden Fingern. Und ich ließ es geschehen, wartete auf ihren festen Druck, darauf, dass sie die Punkte fand, die ihrer Berührung am meisten bedurften. Wissend wie der Liebste und doch anders. Frau eben. Von Frau zu Frau. Ihr Atem und mein Atem im Gleichklang. Manchmal tat es weh – so wie es immer ein wenig wehtun muss. Sagte sie das nicht nachher, als wir kurz über die Liebe sprachen? Immer war es gut, jeder Handgriff saß, jeder Fingerdruck erfolgte punktgenau. Sie bewegte mich und ich ließ es zu. Sie wechselte die Positionen, wie sie es brauchte und ich gab mich hin, vertrauend, genießend. Ich ließ sogar zu, dass sie mich mit Füßen trat, kurz nur aber doch. Ich gab meinen Kopf in ihre Hände, so wie ich ihr meinen Körper überließ zu meinem Wohl. Als es vorbei war, entkam mir eine Träne. Dann lächelten wir uns an. "Danke", sagte ich und machte Gassho und sie bedankte sich ebenfalls. Dabei hatte sie doch gegeben - meine Shiatsu Praktikerin.

Shiatsu ohne Grenzen
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6
Sep
2007

Ausgeblendet

Heute vor sechs Jahren hat sich mein Freund, der Fotograf, ausgeblendet. Als ich ein junges Mädchen war, hat er mir Selbstbewusstsein geschenkt. Weil ich in seinen Augen schön war, auf seinen Bildern etwas Besonderes war, konnte ich mich lieben und wurde geliebt. Doch derselbe Blick, der Frauen schön sah, sah die Welt bitter. Der liebevolle Blick durch die Linse, wurde hart ohne den Schutz der Kamera. Er verehrte Newton und musste Hotels fotografieren. Er fotografierte mich im Dirndl und am Herrenklo. Manche Teile meines Seins erkannte ich erst auf seinen Bildern. Er sah mir zu beim erwachsen werden und mochte mich trotzdem, später sogar mehr, glaub ich. Die letzten Bilder von mir machte er ein Jahr vor seinem Tod. Damals war ich 35 und Monroeblond. Kein androgynes Nymphchen mehr, sondern Weib. Allein zu zweit in einer Burg erzählten wir uns Bildgeschichten, ein Wochenende lang. Ohne meinen Liebsten, ohne seine Liebste. Mit Respekt – alle Lust lag in den Fotos. Bei der Fahrt zur Burg in seinem Bus hat er mir aus seinem Leben erzählt und ein bisschen konnte ich ahnen, woher die Bitterkeit gekommen war. Und doch hätte ich nie geahnt, wie weit die Bitterkeit ging. Die Frau, die ihn liebte, war so voll Wärme, oft fröhlich und so gut. Sie hat ihn gefunden, erhängt in seinem Atelier. Das hat sie mir am Telefon erzählt, am 7. September 2001. Vier Tage später war diese Welt eine andere. Er musste es nicht mehr sehen. Sie konnte nicht mit ihm darüber sprechen.

Das Auge hat sich geschlossen. Manchmal schau ich seine Bilder an, dann mag ich mich, gefalle ich mir, dann finde ich mich wieder, das Mädchen, die Frau, Manchmal ist er bei mir. Oft vermiss ich ihn.
Sie wohl auch.
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4
Sep
2007

Leben und sich leben lassen

"Ich bin doch bloß ein Punkt im Universum und wenn ich nicht mehr da bin, ist es auch egal", erklärte er mir in dem kleinen, spießigem Kaffeehaus gegenüber der Klinik: "Nur mir tut das Leben dann nicht mehr weh." Zwanzig Jahre ist das her. Ich hatte damals keine Antwort für den Cousin, der seinen 18. Geburtstag nicht erleben wollte. Nie zuvor und wohl nie nachher war er mir so nahe. Vorher war er der Kleine, später kam mir meine Eitelkeit dazwischen. Gefeiert hat er den Achtzehnten irgendwann damals, in der "Offenen". Zwei Torten bekam er. Und viele Geschenke – die anderen dort, die ihn sehr mochten, und die Familie, die buhlte, wollten ihm irgendetwas geben. Während der Besuchszeiten herrschte der kalte Krieg zwischen Vater und Mutter, Vaterschwester und Mutterschwester, Vaterfamilie und Mutterfamilie. Schuldzuweisungen und Bemühen. Die Psychiaterin, die auch mit uns verwand ist, erklärte mir was von suizidant und suizidär. Er sei nicht einer, der einfach nur damit drohe, er sei einer, der wirklich gehen wolle. Damals waren es noch Tabletten – zum zweiten Mal. Wir redeten viel, rauchten und er roch an seinen Fingern, weil er das Rauchen hasste. Ich glaubte ihn zu verstehen, nicht wegen des Rauchens, wegen des Punkts und des Schmerzes, den das Denken verursacht.

Später dann legte er sich vor den Zug. Dabei hatte er versprochen nach Wien zu kommen, um mich zu besuchen. Ein Schneepflug erfasste ihn und im Rettungshubschrauber schrie er die Ärzte an: "Lasst mich doch sterben!" Sie sperrten ihn auf die "Geschlossene". Da gab es innen keine Türschnallen mehr. Der kalte Krieg zu den Besuchszeiten ging weiter. Zum Rauchen durften wir nicht mehr ins Kaffeehaus. Einmal saßen wir auf einer Bank vor der Tür. "Warum hast du mir nicht gesagt, dass du nicht zu mir nach Wien kommen willst?", scherzte ich plump. "Wenn du mich gesehen hättest, hättest du es gewusst", darauf war ich lange stolz. Einem, mit dem er sich angefreundet hatte, gelang die Flucht. Der warf sich vor den Zug. Auch das gelang dem. Er fühlte sich schuldig. "Die da oben wollen dich nicht", sagte ich ihm, obwohl ich eigentlich nicht an die dort oben glaubte und: "Du hast noch einen Job zu erledigen." Das zumindest glaubte ich.

Dann studierte er in einer anderen Stadt, weit weg von der Familie. Er wohnte im Studentenheim, ganz oben. Das machte mir manchmal Angst. Er ging in Therapie. Ich auch. Er hatte einen Psychiater, den er hasste und liebte, ich bloß eine Therapeutin, die ich schätzte. Zwei oder drei Mal haben wir ihn geholt, der Liebste und ich, dort unten in seiner Stadt. Einmal bei Schneetreiben. Dann haben wir lange geredet und geraucht und er hat an seinen Fingern gerochen. Am nächsten Tag war er weg. Einmal hat er es noch probiert – dem Psychiater zufleiß. Da war er dann wieder auf einer "Geschlossenen". Ich hab ihn auch damals besucht. Rauchen vor der Tür.

Er hat überlebt, das Studium abgeschlossen und auch nach und nach mit uns abgeschlossen. Zu meiner Hochzeit ist er nicht gekommen. Zu keinem großen Familienfest. Er hat nicht einmal angerufen. Das nahm ich ihm ein wenig übel. Wenigstens beim Liebsten hätte er sich bedanken können, sagte ich. Manchmal haben wir uns gesehen. Einmal bei der Cousine, da war die Freundin dabei. Einmal bei seinem Bruder. Einmal hat er meine Mutter nach ihrem Schlaganfall besucht. Nach meinem ersten Naikan, habe ich ihm ein langes E-Mail geschrieben, hab ihn gebeten auf meine Mutter zuzugehen. Wir konnten uns nicht verständigen.

Zuletzt haben wir uns bei der Hochzeit der Cousine gesehen. Es war ihr wichtig, dass er gekommen ist. Die beiden hatten einen guten Draht zueinander und während sie gegen den Krebs kämpfte, haben sie oft telefoniert. Er raucht nicht mehr. Am Morgen nach der Feier haben wir uns im Kaffeehaus zum Frühstück getroffen. Im Urlaub bekam ich eine SMS von ihm. Er war mit der Freundin in Wien und hätte gerne uns gerne getroffen. "Bin leider in Palermo" war meine Antwort. Ich habe mich gefreut, dass er mich hätte sehen wollen.

Als ich diesmal aus dem Schweigen zurückkehrte, berichtete mir der Liebste, dass der Cousin einen Herzinfarkt gehabt hätte. Nur Tage zuvor habe ich sein Kindergesicht vor mir gesehen. Glück im Unglück hätte er gehabt, erzählte mir sein Bruder. Ich schickte eine SMS. Er antwortete, bitter, getroffen eben von der überraschenden Attacke. Ich schrieb noch einmal zurück: "Die da oben wollen dich nicht. Hab dich lieb." "Danke" war die Antwort.

Gestern habe ich ihn angerufen. Wir haben lange geredet über das Herz, das Leben und den Tod. Er hat mir erzählt von der Nacht in der Intensivstation, als er bei jedem Piepsen dachte, dass es aus ist. Von der Angst. Und davon, wie er plötzlich ganz ruhig wurde, bereit war alles geschehen zu lassen. Ganz kurz nahm er auf damals Bezug. Wir haben über die Cousine geredet und Krebs und darüber was uns der Tod oder zumindest seine Nähe über das Leben lehren kann. Über den Schuss vor den Bug, der eine Chance sein kann. Ishin Yoshimoto habe ich zitiert mit "Verführt von dem Gedanken, dass es ein Morgen gibt, lebe ich mein Heute ohne Essenz." Wir haben auch über die Familie geredet, und dass sie doch irgendwie gut ist trotz des Wahnsinns. "Das nächste Mal ruf ich früher an, wenn ich dich auf einen Kaffee treffen will", hat er schließlich gesagt. Das ist schön.

Erst nachher hab ich wahr genommen, was ich bisher nicht gesehen habe: Dass ich mich auch an ihm schuldig gemacht habe mit Zynismus und Eitelkeit. Und dass es gut ist, dass er noch immer da ist, der Punkt im Universum.
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19
Aug
2007

Ein ganz normaler Samstagnachmittag auf dem Land

"Nein", sagt die kleine Elfe und schon macht den beiden Prinzen das Schaukeln auf der Krokodilswippe auch keinen Spaß mehr. Eben noch haben die beiden Brüder versucht, die Prinzessin ihrer Herzen zum Wippen zu verführen, jetzt sitzen sie enttäuscht und ein wenig verloren auf dem grünen Monster herum. Miteinander spielen? Dazu haben sie keine Lust. Wo es doch um sie geht. Der Fünfjährige und der Dreijährige buhlen um die Sechsjährige wie die Großen. Und sie, die Spielleiterin, Lenkerin ihrer Fantasie und vertraute Freundin von klein auf, weiß ihre Gunst aufzuteilen – oder zu entziehen – wie eben.

Es ist ein ganz normaler Samstagnachmittag auf dem Land. Kinder und Hunde tollen durch den Garten, die Männer bauen einen Teich und ich kehr langsam ins Hier und Jetzt zurück. Gerade den Kleinen fühle ich mich an diesem Sommertag so besonders verbunden. Während ich sie beobachte, wärmen mich die Erinnerungen. So ähnlich muss es wohl gewesen sein, als ich mir damals immer neue Spiele für die beiden Cousins ausdachte. Und obwohl ich unbändige Lust hätte mitzumachen, halte ich mich zurück. Mich brauchen sie jetzt nicht, nicht einmal für die heiß geliebte Mutter ist jetzt Zeit, jetzt sind sie ganz weg und doch bei sich.

Wir fabrizieren in der Küche Kindersauce für die Grillerei am Abend: Mayonnaise, Joghurt, Sauerrahm, die unvermeidliche Sojasauce - Lieblingssauce der kleinen Elfe und somit auch Leibspeise ihre Hoftstaats – ein wenig Wassermelone, Knoblauch und Rosmarin. Die Elfenmutter und ich bereiten die Zutaten vor, die Elfe und der größere der beiden Prinzen rühren. Zuerst in Achtern, dann so "wie meine Mama immer Saucen rührt". Dann wieder Achter, abwechselnd, und immer wieder mit dem Finger kosten und Zutaten ergänzen. Am Schluss erhält die Sauce ein Gesicht. Der Kleine ist im Garten bei den Eltern.

Ein Heißluftballon fliegt über den Garten. Wir rennen alle hinaus, schreien winken, die Ballonfahrer antworten – "Das sind ja junge Leute." "In unserem Alter." "Sag ich doch: Junge Leute wie wir." Der Ballon landet zwei Grundstücke weiter. Die Kinder stürmen hin. Und während wir Erwachsenen ganz gebannt vom Wunder des nahen Ballons sind, ist für die Kleinen bald wieder alles vorbei. Wenn man noch nie einen Heißluftballon aus der Nähe gesehen hat, ist es wohl auch nicht verwunderlich, wenn er beinahe im heimischen Garten landet.

Sojasauce hat er geholt, der größere Prinz, für sich und die Elfe, wie er mir erklärt hat. Jetzt sitzt er da, nascht mit dem Finger von der Elfenspeise und unterhält sich mit mir. SIE hat gerade keine Zeit und seine Mutter versenkt Wasserpflanzen im kleinen Teich. Wir sprechen über Sojasauce, wozu man sie essen kann, über die Kindersauce und die Cocktailsauce. "Ketchup, Mayo und einen Spritzer Orangensaft" verrate ich im mein Geheimrezept der Kindervariante des Klassikers unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Dann kommt die Elfe. Ich bin abgemeldet, ja fast unsichtbar. "Ich schlaf heute bei meiner Mama", verkündet sie. Also nicht im gemeinsamen Nest, an dem die beiden verliebten Buben den ganzen Nachmittag gebaut haben. "Wieso?" er ist enttäuscht. "Weil ich will." Er bettelt noch ein wenig, aber nicht einmal Sojasauce hilft.

Schön ist der Teich geworden und zufrieden sitzen wir beim Essen. "Weißt du was da drinnen ist?" fragt mein kleiner Freund seine Mutter während er sich Cocktailsauce nimmt. "Ketchup, Mayo und einen Spritzer Orangensaft", verrät er unser Geheimnis und dann sagt er noch: "Heut ess ma sie halt, Mama, heut ess ma sie." Die kleine Elfe sitzt am andern Ende des Tischs. Sie hat ihre eigene Sojasauce. Seine schmeckt ihm daher momentan auch nicht recht. Als es dunkel wird zünden wir Kerzen an und hängen Lampions auf.

"Mama, Mama, Mama, Mama", kommt der Kleinste gelaufen. "Was ist denn?" "Da bin ich!" Wenn er die geliebte Mutter ganz für sich allein haben kann, darf sich ruhig der Bruder ein wenig von der Elfe herum kommandieren lassen. Er schmiegt sich an die Hauptperson seines Universums. Der Onkel fotografiert die Innigkeit. Interessiert studiert der kleine Prinz das Bild auf der Digitalkamera. Er ist droben, die Mutter, im Hintergrund der Vater. "Du nit dauf", er probiert den Satz ein paar Mal aus: "Foto nit dauf." Später kommt der Große. Die Elfe hat anderes zu tun. Die Mutter ist belegt und zur Tante unter die Decke kuscheln möchte er jetzt auch nicht. "Weg jetzt" sagt er zur Mutter. Das Kinn auf beiden Händen am Bankrand abgestützt, beobachtete er die Elfe beim Laufen. In seine Augen Liebe und Schmerz.

Lange nach Mitternacht, die Eltern liegen längst bei ihren Kindern, die Onkels und Tanten trinken noch ein Glas. Und endlich löschen wir die Kerzen und räumen die Lampions weg. Es war ein ganz normaler Samstagnachmittag auf dem Land: Mit einer koketten Elfe, zwei verliebten Prinzen, drei verwunschenen Hunden, sechs jungen Leuten, einem Teich, einem Heißluftballon und einer aufkeimenden jungen Liebe.

Teich1
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18
Aug
2007

Meine Welt klingt wieder, ich spreche wieder

Pling, pling – vor zwanzig Stunden erklangen zwei, reine klare Töne zum letzten Mal. Etwa 230 Mal haben sie mir in der letzten Woche das Ende von 20 Minuten Zazen verkündet. Kurz die Beine strecken, haben sie bedeutet, aufstehen zum Gassho, zwei Runden Kinhin, eingeleitete vom Zusammenschlagen zweier Holzstücke, nach der zweiten Runde zweimal Zusammenschlagen der Holzstücke, Gassho in Gehrichtung, Gassho vor dem Sitzplatz, pling, pling pling – wieder 20 Minuten im Lotus, Halblotus oder (nur wenn's gar nicht anders geht) im Längssitz, über dem Zafu knieend. Fast 24 Stunden täglich, sechs Tage lang, war meine Welt fast ausschließlich im Dojo, dem Meditationsraum des Naikanhauses Bodingbach, zwischen meinem Sitzplatz und meinem Schlafplatz, abgesehen von einer Stunde jeden Tag, der Arbeitsmeditation Samu, zu der mich die Osho meist in den Garten schickte. Ich durfte übrigens die Bohnen ernten, die ich gesät habe und habe sie am Abend in einer köstlichen Ramen gegessen. Im Steingarten habe ich Unkraut geerntet und dabei eine ganze Menge Oregano ausgerupft – "der gehört da nicht her", meint die Osho – und so wird es demnächst die eine oder andere Speise den Geschmack der Reue tragen.

Reue, darum ging es ja täglich zwischen 5 Uhr früh und 21 Uhr – und natürlich auch in der Nacht – Okosan, Übung im Schlafen. Und was habe ich nicht alles gesehen und gefühlt, wenn ich mit schmerzenden Beinen da saß, meinem Atem und dem Atem des zweiten, bis Mittwoch mit mir Übenden folgend. Den großen Zorn eines kleinen Mädchens, das weiß, dass es was angestellt hat, den Größenwahn einer pubertierenden Prinzessin, genährt von Benn, Brecht und Jim Morrison, die ohne mit der Wimper zu zucken, Herzen brach, das hochmütige Lästern der jungen Frau, die glaubt über Jüngere urteilen zu dürfen, jetzt endlich ist sie dran, die selbstgerechten Verweigerungen, weil ich doch eh immer gegeben habe. Und so viel mehr habe ich gesehen: Ich habe doch ganz vergessen, dass ich ein Kasperltheater hatte mit einem schönen Krokodil und wie Puffreis schmeckte, Freundinnen und Freunde, die ich unterwegs verloren habe, das Striegeln eines Pferdes, der Geschmack einer Schwedenbombensemmel, dass es einst Buttermilch in Gläsern mit grünen Stannioldeckel gab und wie es war, auf der Bühne zu stehen. Und dazwischen immer wieder ihr.

Meine Wegweiser waren mir vier Jujukinkai-Themen. Meine Wegbegleiterin war die Osho, die etwa alle eineinhalb Stunden, mittels Zusammenschlagen der Hölzer und Glocke zum Dokusan in den Nebenraum rief – und nicht nur einmal hat sie mir, wenn ich Tränen überströmt berichtete habe, was ich gerade wieder erlebt habe, leise, lächelnd und sehr bestimmt gesagt: "Nur nicht in Selbstmitleid versinken, du hast Leid erzeugt für dich und die anderen."

Der Tag begann um fünf Uhr, um 5.15 Uhr war die Osho schon im Dojo, bereit zur Morgenmeditation. Kurz vor Sechs kam dann Stefanie, die uns hervorragend vegetarisch bekocht hat, um sechs wurden nebenan mit sechs Gongschlägen die Naikan-Praktizierenden geweckt, dann kam der dritte Naikan-Begleiter Rüdi, ein Schweizer und saß noch 25 Minuten mit uns. Und schließlich waren wir – ab Mittwoch ich – allein. Irgendwann brachten Stefanie oder die Osho dann das japanische Frühstück, längst hatte ich aufgehört drei Mal zwanzig ist eine Stunde zu zählen. Reis, Miso-Suppe, Tee – eine Schüssel, um den Reis, den man nicht zu essen beabsichtigt hinein zu geben, vorher, unberührt, für andere, die mehr Hunger haben. Pling, das Tischgebet auf Japanisch und Deutsch: Ich prüfe, ob ich daran denke, woher dieses Essen gekommen ist und mache mit bewusst, wie es zustande kam. Ich prüfe für mich weiter, ob ich genug Gutes getan habe, um diese Speise essen zu dürfen. (..) Mit meine ersten Biss schneide ich alles Böse, mit meinem zweiten Biss mache ich alles gut. Mit meinem dritten Biss wünsche ich alle Wesen zu retten. Mit meinem vierten Biss wünsche ich allen Wesen, dass sie den Buddhaweg erfüllen und Satori erreiche.
Gassho – schnell und schweigen essen.
Alles aufessen, Schale und Stäbchen mit Tee waschen, nach dem Essen rezitieren:
Die acht großen Wahrheiten:
Erstens: Wir haben von Anfang an Buddhanatur.
Zweitens: Durch unser Ego verlieren wir den Weg.
Drittens: Das Leben geht weiter
Veitrens: Es ist immer Ursache und Wirkung vorhanden.
Fünftens: Ich und andere sind eins.
Sechstens: Alle Buddhas existieren wirklich.
Siebentens: Wir fühlen Verbundenheit.
Achtens: Das ist der Prozess, um Buddha zu werden.

Gassho, Esstablett vor die Dojotüre. Weiter sitzen.

Zwischen halb zehn und halb elf dann Samu, Arbeitsmeditation, gegen dreizehn Uhr Mittagessen, dasselbe Ritual wie in der Früh. Dann eine Stunde Okosan, Übung im Schlafen. Sitzen bis zum Abendessen, bei Jujukinkai nur jeden zweiten Tag Duschen, manchmal zwanzig Minuten Kinhin. Um acht Uhr Abendmeditation, da kamen dann die Naikan-Übenden dazu. 25 Minuten lang. Wir saßen dann noch bis 21 Uhr. Das war meist die schmerzhafteste Stunde, Kniesitz wäre da nie gegangen, also Zazen, die Knie schmerzen, die Füße schlafen ein, das Kreuz tut weh, alles, wie lange sind 25 Minuten, was tu ich mit meinem unruhigen Geist? Zuflucht suchen in Vergangenem und Zukünftigem beim Liebsten und Freunden nur um dann doch wieder den Schmerz zu spüren, mich an mein Thema zu erinnern, Atemzüge zu zählen….

Und dazu die Stille, diese unendliche Stille, selbst die Vögel scheinen den Atem anzuhalten und die Wespen fliegen bloß die eine oder andere neugierige Runde um meinen Kopf. Wie eine Schildkröte, stand in einem Buch über Zen, habe ich meine Sinne eingezogen, die Augen zu, kein Tasten, kaum Riechen, wenn nicht gerade der viel versprechende Duft der nächsten Mahlzeit durchs Haus schleicht oder Buddha morgens und abends mit Räucherstäbchen erfreut wird. Aber die Ohren, Freunde und Feinde, lauschen nach jedem Geräusch, jemand sprich vor dem Haus, jemand geht aufs Klo, jemand holt sich Tee, Erinnerungen an das erste Naikan, als ich - die Laute – fast stündlich ein wenig leiser wurde, die Osho kommt, die Schiebetüre, gleich Dokusan, das Essenstablett wird geholt, zirpende Grillen, pubertierende Osho-Söhne vor der Tür, die Ötscherlandbahn ,deren plingplingpling nur heißt, dass es doch noch dauert bis Mittag.

Am dritten Tag schleicht die Trauer durchs Haus, der Schmerz über das, was man getan oder eben nicht getan hat, hier und drüben in den Naikan-Räumen, verweinte Augen bei der Abendmeditation, schnell den Blick wieder senken, keine Blickkontakt, "keine Interaktion - ah net mit Kiah", hat der verstorbene Osho, der Josef aus dem Mühlviertel, damals vor vier Jahren gesagt, als ich in der Mitte eines Meditationsmarsches in den Ötscher Bergen so ein Rindvieh herzen und mit Schmerz und Liebe überhäufen wollte – wie er meinen Plan erahnte, weiß ich bis heute nicht, der Satz fällt mir immer ein, wenn mein Blick sich unbotmäßig verirrt. Mit der Osho gibt es keine Meditationsmärsche, die Osho hat nur ein Bein, gütige Augen, ein schüchternes Lächeln und eine Klarheit und Schärfe, um die sie ein japanischer Messerschmied beneiden würde. Und manchmal ist sie ein Mädchen.

Gestern um halb zwölf noch Minuten vor dem letzten pling, pling, als ich allein im Dojo saß, wartend auf die Osho, ging draußen vor der Türe das Leben los. Sechs Stimmen lachten, schnatterten, redeten wild durcheinander – sechs Naikan-Übende kehrten ins Leben zurück. Meine Beine schmerzten – heute nur Lotus hatte ich mir in einer absurden Form von Ehrgeiz geschworen – ich dachte über Zorn nach und wusste doch so genau, was da draußen gesagt wurde: "Als du damals geweint hast, ich hab sofort erkannt, dass ich das Fenster schließen soll, du hast ja gelacht, ich hab mir die Ohren zugehalten, wenn du ein Gespräch hattest und trotzdem gehört, die haben so viel zu erzählen, hab ich gedacht, woher weiß ich genau, dass das zwischen sechs und zehn passiert ist habe ich mich anfangs gefragt und plötzlich wusste ich, das ist egal, ich habe ja so viel bekommen in meinem Leben…"

Ich habe ja so viel bekommen in meinem Leben – und es ist so schön das zu sehen. Ich habe noch so viel zu geben und das ist auch schön.

Das buddhistische Wort Fuse (die Gabe) bedeutet auf die Gier zu verzichten und andere zu beschenken.
2690 mal erzählt

20
Jul
2007

Ehrenwerte Besucherinnen, geschätzte Besucher,

ich verabschiede mich für die nächsten 14 Tage ins richtige Leben.
Auf zum Tanz auf dem Vulkan, ich will mein Ohr an den heißen Atem von Mutter Erde legen, in Wellen statt im WWW tauchen. Mir gelüstet nach Pasta statt RSS-Feeds, Trekking statt Trackbacks, antiken Mosaiken statt Bildrmischmaschine und danach, dass links wieder einmal nur das Gegenteil von rechts ist. Kommentare soll die nächsten zwei Wochen nur der Liebste geben. Wühlen Sie unterdessen getrost im Schatzkästchen der Mock Turtle oder lassen Sie es bleiben, ich würde mich freuen, Sie nach meiner Rückkehr wieder hier anzutreffen. Ich genieße unterdessen meine Sommergefühle

vostra
tartaruga finta

BildrmischmaschineSizilien
647 mal erzählt

19
Jun
2007

To absent friends

Heute vor einer Woche vor dem Volksgarten-Pavillon um zwei Uhr früh war er plötzlich wieder da. Wir haben ihn wohl her gewinkt zu unserem Tisch, schließlich war er ja ein Freund. Er war keiner von den Freunden, die man anruft und denen man sein Herzeleid erzählt. Ich habe mich nie mit ihm verabredet und ihn oft getroffen. In verschleppten Mittagspausen im Schwarzmarkt bei einem kleinen Bier, in der winzigen Wohnung des Erstgeborenen, rauchend, am Fußboden zusammengekauert, Schallplatten hörend, über den Job lästernd oder trinkend nachts im Volksgarten. Wir haben uns geneckt, manchmal debattiert und vielleicht auch ein wenig geflirtet. Ich habe ihn ausgeschimpft, wenn er zu sehr über seine Freundinnen hergezogen ist und oft über seine Zynismen gelacht. Manchmal sehe ich ihn noch, da betrinkt er sich mit dem Erstgeborenen und mir am Freitagnachmittag oder er fährt im Auto mit auf der Süd mit uns. Auch die anderen treffen ihn hin und wieder. Unverbindlich wie immer. Man kann ihn nicht anrufen, sich nicht mit ihm verabreden, aber er ist verlässlich immer wieder da. Einmal hat er im Volksgarten sein T-Shirt hoch gerissen: er hatte sich ein Herz ins üppige Brusthaar rasiert. Es sah entzückend aus.
Und dann stand er plötzlich an einem Sonntag vor acht Jahren in der Kronenzeitung – er füllte eine Doppelseite.
Unser Freund, der Geisterfahrer, der gegangen ist, um nicht zu vergehen.
975 mal erzählt

21
Mai
2007

Der kleine Sommelier

Sommelier-Julian
Mein Neffe Julian ist wunderbar - nicht nur, dass er ein hervorragender Küchenhelfer ist - rollt erstklassige Petersilienknöderln, nein er entwickelt sich schon zum kleinene Sommelier. Auf die Idee, die Weißweinflasche für Tantchen in einem Kühler zu transportieren, ist er ganz allein gekommen.
1309 mal erzählt

14
Mai
2007

Mein Zufluchtsort

Bodingbach
Wo die Stille regiert und sich die Welt anders dreht.
Bohnen durfte ich dort pflanzen und wenn ich wieder komme, darf ich sie vielleicht ernten und essen.
1339 mal erzählt
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Mock Turtle

Sit down, both of you, and don't speak a word till I've finished

Who sits there?

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Gruß nach drüben
Der Vater - der großartige Walter Deutsch ist am 13....
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Wenn ich schon geahnt...
dass ich an jenem Zuhause angekommen bin. Ich liebe...
katiza - 22. Feb, 15:42
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Der Vater - der großartige Walter Deutsch ist am 13....
katiza - 18. Feb, 16:53
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katiza - 22. Feb, 15:42
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froggblog - 10. Sep, 11:46
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datja - 18. Jul, 18:34
Lieber Yogi, ein bisschen...
Lieber Yogi, ein bisschen frivol der Geburtstagsgruß...und...
datja - 5. Jul, 14:19

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