Lebens-Wert

23
Jul
2010

Zu Kreuze kriechen

Da kehre ich nun also zurück in den Schoß der Mutter Kirche. Vor mehr als zehn Jahren bin ich ausgetreten, Anlass war dafür keiner mehr nötig, Gründe gab es mehr als genug. Eher war es vielleicht verwunderlich, warum ich so lange bei diesem Verein geblieben war. Der Glaube war mir schon 20 Jahre vorher abhanden gekommen.

Dabei wäre die kleine Turtle ein dankbares Schäfchen gewesen. Die halbjüdische Großmutter hatte mich das Beten gelehrt, die Bibel las ich mit Begeisterung und in den masochistisch angehauchten Fantasien meiner Kindheit erschien mir Märtyrerin ein erstrebenswertes Berufsziel. Ja, das konnte ich mir gut vorstellen: Für meinen Glauben leiden, für meinen Glauben sterben. Der Herr Pfarrer, ein hagerer, verbissener Mann, der für den Religionsunterricht in der Volksschule zuständig war, verstärkte meine SchuldundSühneLeidensGlaubensannäherung noch durch Schreckensvisionen vom Fegefeuer und strenge Strafen wie Eckenstehen, Schranzhocke und Scheitelknien. Selten musste ein Mädchen so Buße tun,die kleine Turtle hat es geschafft. Was sie nicht geschafft hat, war Ministrantin zu werden, das blieb ihr damals Anfangs der 1970er in Tirol versagt. Der Kirche nahm sie das ein wenig übel und bewegte sich den ersten Schritt weg vom Glauben.

Mit dem Gymnasium, Bergen von Büchern und der Pubertät folgten weitere Schritte, jeder schneller und größer als der vorige und irgendwann zwischen Böll und Sartre hörte die Turtle auf, an Gott zu glauben. Den Religionsunterricht beim kleinen Prof im weißen Mäntelchen, das sonst nur den Biologie, Physik und Chemie unterrichtenden Kollegen vorbehalten war, besuchte ich weiter. Dort lernten wir vor allem über den Kirchenausbau samt Lichtorgel unseres Professors und über die Höhlen von Qumran. Um den Lageort letzterer zu illustrieren mussten immer wieder Landkarten aus dem Geographiekammerl geholt werden. Stets wurde ein Bub dafür ausgewählt den kleinen nach viel zu viel Rasierwasser duftenden Mann im weißen Mäntelchen zu begleiten. Jahre später hörte ich, die Buben, die Ministranten und das Kammerl seien ihm zum Verhängnis geworden. Es überraschte mich kaum.

Während der Studienjahre übernahmen die Eltern die Kirchensteuer, damit ich ein christliches Begräbnis bekäme, erklärte die Mutter. Der Vater sagte nichts und zahlte. Erst jetzt nach seinem Tod erkenne ich langsam, dass er wohl sein sehr gläubiger Mensch gewesen ist. Auf unseren Reisen und Ausflügen konnte er an keiner Kirche vorbeigehen, ohne sie zu betreten, eine Kerze anzuzünden und sich auf ein paar Minuten in die hölzernen Sitzreihen zu quetschen – versunken sah er aus, wohl in ein Gebet. Ich sehe ihn auch einen Laib Brot anschneiden und vorher mit dem Messer das Kreuzzeichen an die Unterseite malen und ich spüre noch immer jenes Kreuz, das er mir so oft mit dem Daumen zärtlich zum Abschied auf die Stirn gemalt hat. Unser letzter gemeinsamer Spaziergang durch das fremd gewordene Heimatdorf führte uns erstmals gemeinsam – bei meiner Erstkommunion war er wie oft verhindert - in die Dorfkirche und schließlich auch zum Kugeltoni, einem Bild des heiligen Antonius, 1809 durchlöchert von den Kugeln der Franzosen, in einer kleinen Kapelle.

Mir aber blieben Gott und Kirche fern. Geheiratet haben wir dann aber doch auch kirchlich. „Die haben Jahrhunderte Erfahrung und bieten daher die beste Show“, rechtfertigte ich die Inkonsequenz – und erst das Hohe Lied der Liebe. Getraut hat uns ein lebenslustiger Abt, der vor Eintritt ins Kloster als der schnellste Saustecher Niederösterreichs war und uns zum Eheunterricht ein feines Weinchen kredenzte.Fünf Jahre später bin ich dann endlich ausgetreten. Ohne Anlass, mit vielen Gründen.

Und doch, auch wenn mir Gott und Kirche fern sind, habe ich dem Neffen letztes Jahr gar eine Bibel weil er sich für Gott interessiert und weil ich das Buch mag und es untrennbar mit unserer Kultur verbunden ist. Ich hab gefragt vorher, ob ich das darf. Und ich hab nachgeschaut nachher, er hat darin gelesen, ein wenig zumindest.

Und jetzt Mimi und die große Ehre ihre Taufpatin sein zu dürfen, als Ausgetretene geht das aber nicht und im heil’gen Land schon gar nicht. Und so beschloss ich das Comeback. Mit offenen Armen wurde ich aufgenommen im Haus gegenüber von einem Priester, der dieselbe Hautfarbe hat wie mein Patenkind. Morgens wenn ich meditiere schau ich immer auf das Kirchendach. „Glaube, Hoffnung und Liebe“ hat Schubert zur Glockenweihe dieser Kirche geschrieben. Der schwarze Pfarrer hat eine kleine Zeremonie mit mir abgehalten, zwei Pfarrsekretärinnen standen mir als Zeuginnen zur Seite – in meinem Freundeskreis hätte ich niemanden gefunden, der noch dabei ist.

Zu viert standen wir in der Antoniuskapelle und das half ein wenig. Beim Glaubensbekenntnis stieg aber der alte Widerspruch in mir auf, vor langer Zeit hatte ich aufgehört es bei den seltenen Gottesdiensten mitzumurmeln, jetzt musste ich laut und deutlich vom Blatt lesen. Und so log ich, log für Mimi, log beim Vater Unser und bei der Kommunion. Und ließ mich doch ein wenig von der Vetrautheit der Worte auffangen – wie auch wir vergeben unsern Schuldi gern. Geld wollten sie keines, ich hab gespendet und im Kreuzgang mit Fürbitten-Tafeln noch eine Kerze für Papa angezündet. Über mir hängt Jesus: Gloria.

2010-07-21_11-06-14_151_Wien
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5
Jul
2010

Wonniges Wochenende

Es war ein gutes Wochenende und hat begonnen wie ein gutes Wochenende beginnen muss: mit einem Freitagnachmittag mit viel Qualitätszeit beim Erstgeborenen. Nur ein Besucher teilte mit uns Guacamole und Flämmkuchen, die ich mitgebracht hatte, Pfarrersköchin in des Erstgeborenen Chapel of Soul. Belohnt wurde ich mit einer Sommercompilation, die die Mundwinkel nach oben wandern und die Beine zucken lässt. Liebe und Schmerz in den Lyrics – Soul eben. „Keine Platte unter 50 Dollar“, informiert mich der Erstgeborene über den Wert der Sammlerstücke, die um die halbe Welt geflogen sind, um bei ihm Heimat zu finden und dankbare Ohren wie die meinen. Theodora leistet uns Gesellschaft und später Athanasius. Wir reden übers Leben und Lieben und übers Trinken. „Bist du eigentlich einsam?“ Die Frage kommt unvermutet, von dem, mit dem ich fast täglich Kurzmitteilungen austausche. „Ja“, antworte ich. Und später „Sind wir das nicht alle?“ Und noch später frage ich mich, ob ich tatsächlich einsam bin. „Ich bin nicht einsam“, sag ich irgendwann: „Ich habe dich und andere…“Und habe doch Angst, ihm Angst zu machen mit meiner seltsamen Liebe.

Am nächsten Morgen dann Frühstück mit zwei Drittel Sechseck: Mr. F und die quirlige Freundin vervollständigt mit zwei anderen wertvollen Menschen aus jener Freßgemeinde, deren Bürgermeister eben zu Grabe getragen wurde.

Am Samstagnachmittag Kindergeburtstag. Der Lieblingsneffe wird acht Jahre alt und bekommt einen Gewürzkoffer, weil er Koch werden will und weil er den von Tante und Onkel so liebt. So ein Geschenk will richtig übergeben werden, dann macht es noch einmal so viel Freude. Richtig enttäuscht ist er voererst, als er nur ein T-Shirt und ein kleines blaues Päckchen bekommt, in dem sich allerdings nach mühevoller Auspackung ein Schlüssel findet. „Wo ein Schlüssel ist, muss auch ein Schloss sein", strahlt er und macht sich auf die Suche nach dem großen Paket, mit dem er den Onkel vorher erwischt hat. Und dann kommt ihm auch ein Verdacht: „Ein Gewürzkoffer?“ Glücklich sperrt er den Koffer auf, überprüft die mitgelieferten Gewürze. Kurkuma ist da, zum Nasen (und Reis) gelb färben und Süßholz, fein geraspelt, natürlich Vanille und Paprika, Zimt und Salz, ein kleiner Mörser findet sich, ein Kräuterbuch für Kinder und eines zum selber schreiben für den Schulbuben. Wie gut er riechen und schmecken kann, stellt er bei der anschließenden Kinderolympiade auch stolz unter Beweis.

Die Nacht von Samstag auf Sonntag verbringen der Liebste und ich in der Wochenendwohngemeinschaft auf dem Land in jenem kleinen Wolkenkuckucksheim, das wir dort bewohnen dürfen. Am Sonntagmorgen wird doch das Pool aufgestellt, es sieht ja doch nach Sommer aus. Abends flieg ich schließlich nach Tirol, heim zu Mama.

War kaum eine Minute allein an diesem Wochenende und selten einsam.


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21
Jun
2010

Und sonst?

Mein Leben fühlt sich derzeit an wie dieser Sommer.

Es wird den Erwartungen nicht gerecht; enttäuscht durch Platzregen, täuscht durch kurze Hitzeperioden. Mit Hochwassergefahr, Murenabgänge und Schnee auf den Passstraßen ist stets zu rechnen. Die Temperaturen passen nicht zur Jahreszeit, es ist kühl, manchmal eiskalt, dann wieder tropisch heiß; nichts ist mehr vorhersehbar, der nächste Wolkenbruch kann gleich kommen. Nie das Haus ohne Schirm verlassen oder einfach nass werden. Nur keine Pläne machen, das Wetter erlaubt das nicht.

Und so lass ich mich treiben, nehme sie hin das Leben, den Sommer und den Rest.

Nur Sonntag abends tanz ich, als würden morgen die Sommerferien beginnen...

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15
Jun
2010

P.S. an Mimi

Mein liebes Godlkind,

dein Papa hat mich gefragt, ob ich deine Patin werden möchte und unter Tränen hab ich „Ja“ gesagt – er hat mir damit ein wunderbares Geschenk gemacht, uns, liebe Mimi, denn ich verspreche dir, den Job sehr ernst zu nehmen und humorvoll auszuüben. Falls notwendig und deine Eltern wünschen es, trete ich sogar in die Kirche wieder ein. Die Mutter deines Papas war meine Godl, ich freue mich, dass ich dir ihren Namen geben darf – so schließen sich die Kreise wieder.
Ich freu mich auf dich und alles, was kommt!


Mimi
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8
Jun
2010

Werkstätte

Und sind endlich doch zum Bildhauer gefahren, den Grabstein zu bestellen. Ein Sonntagsausflug mit Mutter und Mann. Heiß ist es und auf den Bergen liegt Schnee.

Ich sitz hinten im Sharan und genieße es, wenigstens für die Zeit der Autofahrt ein bisschen allein zu sein – außer Sichtweite. Mutter und Mann konzentrieren sich auf mich, nicht nur, weil ich Tochter und Frau, ihr Verbindungsglied bin, sondern auch, um korrigieren, Ordnungen herzustellen, wie es ihnen beiden dringendes Bedürfnis ist. Immer wieder zupfen sie an mir, richten Krägen und Taschenriemen, ziehen Jacken und Mäntel in Form, meine Hände picken und müssen gewaschen werden, fordert die Mutter, in den Mundwinkeln habe ich Rotwein oder Kaffee, signalisiert mir der Mann mit allzu bekannter Geste und da ein Fussel und dort ein Fädchen, meine Erinnerungen sind unpräzis, ich rede zu laut, zu lange, zum falschen Zeitpunkt, ich unterbreche, ich entschuldige mich zu oft, zu unterwürfig. Ich passe nicht – misfit!

Wie ein Ärgernis fühle ich mich, das die notwendige Ordnung dieser beiden für mich so wichtigen Menschen stets stört, schon immer gestört hat. Beide werden leicht zornig, ob der anderen Menschen und ihrer Fehler und Dummheiten, ich fürchte diese Wut, wiewohl ich nur Zaunzeugin bin. Vielleicht ist das der Grund, weswegen ich mich stetig entschuldige, für jedes Missverständnis, alles was die Stimmen der beiden lauter werden lässt, was Ärger in ihre Gesichter malt. Ich fühle mich beobachtet und beobachte doch selbst andauernd, um Spannungen rasch aufzulösen, um nur keine schlechte Stimmung aufkommen zu lassen, des Friedens Willen.

„Entschuldigung, dass ich auf der Welt bin“, schrecklich klang dieser Satz in den Ohren des kleinen Mädchens, das im Bett lag, Steineier, Traumsteine in den Händen, glatt und kühl, und voller Verzweiflung den Streit der Eltern dort draußen belauscht. Der Satz fiel oft und macht solche Angst, heißt er doch, dass man selbst vielleicht auch nicht erwünscht ist auf dieser Welt, deplatziert. Ich bekomme ihn kaum mehr aus dem Kopf in diesen Tagen. „Dein Vater hat sich auch ständig entschuldigt“, sagt die Mutter. Ich weiß. Und doch kann niemand dieses Gefühl der Schuld, des Störens von uns nehmen, ganz im Gegenteil, das stete Bitten um Verzeihung verstärkt den Ärger der Zornigen nur.

Der Weg ist gesäumt von Erinnerungen, Kindheitserinnerungen, aber auch solche, die wir drei in diesem Auto teilen. Grün leuchtet der Achensee, wir essen im selben Gasthaus wie das letzte Mal. Neu ist nur der Weg zum Bildhauer. Im Rofan ist er zuhause, zwischen gigantischen Bergen gießt er seine Gedanken in Form. Die Mutter erzählt wieder von der ersten zufälligen Begegnung mit dem Künstler, vor Jahren als sie nach dem Schlaganfall hier spazieren ging. Eine Büste hatte sie angelockt und wie es ihre Art ist, hatte sie an die Türe geklopft, und sich nach dem Schöpfer erkundigt. Die Frau des Bildhauers hat ihr aufgemacht, zwei Stunden war sie dann beim Künstler in der Werkstatt gestanden ins Gespräch vertieft. Zwei seiner Statuen haben die Eltern später gekauft, Mann und Frau stehen bei uns im Garten, Vater und Mutter symbolisierend – eine Familienaufstellung in Bronze. Ohne mich.

Nun soll der Bildhauer das Grab machen für den Vater, eigentlich für sie beide, wie die Mutter betont, die möchte, dass ihre Urne später einmal dazu gelegt wird. Ich könne die Statue ja dann irgendwo aufstellen, wenn ich das Grab aufließe, das besonders pflegeleicht sein müsse – winterharte Pflanzen – weil ich es ja eh nicht pflegen würde. „Du bist ja in Wien.“ So wie ich das Haus gleich verkaufen würde, abreißen lassen, wenn sie dann stürbe, bald.

Der Bildhauer freut sich, dass wir kommen. Gleich nach dem Begräbnis habe er das Grab entworfen, erzählt er, und schon gewusst, dass wir uns irgendwann melden würden. Ein Sterbebild des Vaters liegt in der Werkstätte, jede Menge Zeitungsausschnitte hängen an den Wänden oder liegen zwischen Gipsabgüssen und Styropormodellen, die meisten Cartoons oder Kurzmeldungen, heiter und ein wenig anzüglich. „Intimrasur im Auto – Unfall“ oder ein aktueller Janosch.

Sie muss als junge Frau noch schöner gewesen sein, die Französin mit den weißen Haaren und der charmanten Sprache, die Frau des Bildhauers, die er mit einem In-die-Hände-klatschen ruft, ganz Patriarch, wie er betont. „Mein Mann war auch ein Patriarch“, sagt die Mutter. Das stimmt nicht, korrigiere ich, das trägt mir einen strengen Blick ein. Die Frau schminkt sich noch schnell, während uns der Bildhauer Anekdoten erzählt, von Politikern und deren Gattinnen. Er ist stolz auf die prominente Klientel, die ihm auch zu einem Professorentitel verholfen hat. Heute ist er schmutzig, der Herr Professor, weil er Gussrahmen baut für eine Haifischfamilie. Ein Freund hilft die Holzgestelle mit Asche auszukleiden. Schließlich pflückt der Bildhauer noch ein paar Blumen für die Mutter, uns bittet er wieder zu kommen, über Nacht, damit wir auch ein wenig Wein trinken können. Dann geht er in die Werkstatt, Haie gießen, und seine Frau zupft weiter Unkraut im Garten.

Morgen hätte der Vater seinen 80sten Geburtstag gefeiert. Wie gut, dass er auf der Welt war.

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1
Jun
2010

Liebe Mimi,

ich freu mich auf dich. Du bist ein Wunschkind. Vielleicht warst du es nicht dort, wo du am 20. August 2009 auf die Welt kamst, aber 5.000 km entfernt wurdest du bereits damals heiß ersehnt. Vor ein paar Tagen hat mich dein Papa angerufen und mir erzählt, dass sie dich nun holen dürften. Dein Papa ist mein Lieblingscousin, er war für mich immer ein bisschen wie ein Bruder. Ich hatte ja keine Geschwister, so wie deine Schwester, Prinzessin Mausezahn bis jetzt Einzelkind war. Auch sie, ein echtes Wunschkind. Die freut sich auch schon auf dich – ich hoffe so, dass ihr Freundinnen werdet, Schwestern. Deine Mama tut alles, damit auch das klappt und so weiß deine große Schwester schon sehr viel über Afrika, den Kontinent, den deine Eltern sehr lieben und über deine Heimat, Äthiopien.

Das Land in dem deine Wiege steht nennen sie die Wiege der Menschheit. Wegen Lucy wohl, dem Skelett der Urfrau 3,2 Millionen Jahre alt. Und die Königin von Saba soll auch aus Äthiopien gekommen sein. Starke Frauen, also. Heute hättest du es als Frau in Äthiopien nicht so leicht.

Deine Heimat hat eine große Geschichte und eine faszinierende Kultur und gehört doch heute zu den ärmsten Ländern der Erde. Dazu haben auch wir in unserem reichen Land beigetragen. Deine Bauchmama hat es sicher sehr schwer in ihrem Leben. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie sehr arm ist, ist hoch, vielleicht ist sie beschnitten, grausam verstümmelt wie 90 Prozent der Mädchen und Frauen in Äthiopien. Vielleicht wollte sie nicht, dass du Dinge erleben musst, die sie erlebt hat. Sie wusste sicher, dass sie dich in eine bessere Zukunft gibt, dich davor schützt, gequält, missbraucht, ausgebeutet zu werden, zu hungern, krank zu werden, früh zu sterben. Deine andere Mama wird alles tun, um dich zu beschützen und dir ein schönes Leben zu ermöglichen.

Es wird trotzdem nicht leicht, kleine Mimi, in der neuen Bergwelt, in die du ziehst. Es wird nicht einfach in dieser Familie mit ihren Ängsten und Rassismen, bei den Menschen dort, die lieber Gipfel stürmen als Worte wechseln und die das Fremde nur im Zusammenhang mit der Einnahmequelle Tourismus begrüßen können. Fremdenverkehr. Wir freuen uns so, lächeln sie deinen Eltern entgegen und am Telefon tauschen sie dann düstere Befürchtungen aus. Ob das gut geht, fragen sie sich untereinander, die Antwort bereits vorwegnehmend in gekräuselten Lippen und verengten Augen. Diese Familie wird schon misstrauisch, wenn jemand aus der Unterstadt kommt, ganz zu schweigen vom Fremden. Und das Fremde beginnt vor der Haustür. Fremd sind schon die Wiener, so ganz anders als wir, das stolze und fleißige Bergvolk. Fremd und beängstigend: die amerikanische Frau des Wissenschaftler Cousins. Noch fremder: die türkische Freundin des schönsten Cousins. Die lassen uns mit ihr ja nicht einmal ins Kasino, befürchtet sein Vater und, wiewohl Freund exotischer Reisen in den Jemen oder nach Ghana, alpträumte er von fremden Sippen, die das Erbe übernehmen würden, im Garten seiner Villa in Zelten hausend. Das wird nicht leicht, mutmaßen sie, man wisse ja, wie die Leute so seien. Klein sind sie ja lieb, die Negerkinder, meinen die Frauen, die alle mit Negerpuppen aufgewachsen sind. Aber sie werden ja größer. Dass es zu schwarz sein könnte, fürchtet die eine, als sie einmal zwei kleine afrikanisch-stämmige Kinder im Schnee sieht. Gar so schwarz.

Deine Familie, Mama, Papa, Mausezahn, lässt sich davon nicht irritieren. Deine Mama mit dem schönsten Lächeln der Welt, setzt sich schon durch gegen jegliche spießige Verbohrtheit. Sie wird mit dir basteln und dein Leben wunderbar bunt und fröhlich gestalten. Und sie wird dafür sorgen, dass du immer Afrika und deine Bauchmama im Herzen hast. Dein Papa lebt mit einem alten Zorn tief in sich und kann doch - oder vielleicht auch deswegen so viel Liebe geben und gibt sie. Glaub mir – er ist ein wunderbarer Vater, ein großer Bub, er kann (ver)zaubern und er wird dich Schifahren lehren, dir Rockplatten vorspielen, er wird blöde Witze machen, dich in den Armen halten und dich auf Händen tragen. Und Prinzessin Mausezahn wird dich mitnehmen in ihre, eure Welt. Ins Restaurant aus abgesägten Baumstämmen in der letzten Ecke des Gartens. Sie wird dir Grassuppe kredenzen und dich bevormunden. Sie wird dich vielleicht manchmal dorthin zurück wünschen, woher du gekommen bist . aber das machen Geschwister so.

Oh ja, sie haben sich gefragt, ob sie dürfen, sollen, können – dich aus deiner Welt in ihre Welt, aus diesem Leben in ein anderes zu nehmen und vielleicht wirst du dich oder sie das später einmal auch fragen. Sie tun es voller Liebe und so wird es wohl gut gehen.

Heute fliegen die drei, dich abzuholen. Ich freu mich auf dich, meine neue Cousinnichte mit der besonderen Geschichte. Mein Herz und mein Zuhause werden auch immer für dich offen stehen und sobald du aufrecht vor einem Herd stehen kannst, werden wir gemeinsam Injera backen. Und dabei werde ich dir Black Music vorspielen, versprochen.
Du bist ein Wunschkind, Mimi, und ich wünsche dir ein wunderbares Leben.

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24
Mai
2010

Psychedelic Superstar

Tanzen in der Pratersauna, bis zur Erschöpfung und doch vom Erstgeborenen mit immer neuen, alten Lieblingsnummern angetrieben. Wie großartig sind diese Momenten, ich spüre meinen Körper, mein Blut, ich fühle mich leben, die Menschen sind schön, Augenblicke, Rhythmus, Schweiß und Kraft.

Und dann ein letzter Gin-Tonic draußen. Einer steht da und will den Erstgeborenen.
Wie lange wir uns kennen, möchte er wissen. „Hundreds of years”, schlage ich vor.
„I like your hair“, meint er und “Psychedelic Superstar.”
Und ich bin glücklich.

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14
Mai
2010

Puppi

„Haxi schön“ steht am Wochenkalender unseres Nachbarn. Fast jeden Tag in diesem Jahr, fein säuberlich am Ende jeden Tages, fast jeden Tages. Der Kalender hängt über einem Spiegel in der winzigen Küche der Nachbarwohnung. Darunter steht eine Bank, weiß überzogen, ein einfacher weiß gestrichener Holztisch, gegenüber der Fernseher, ein altes Gerät. Eine Elektroplatte steht auf dem uralten Herd, Stoffbärchen da und dort, Plastikblumen, Kitsch, vor der Tür ein Gold verbrämtes Aquarium mit dem Namen des Nachbarn drauf, auch in Gold, darin Seltsames, eine Ritterburg, Steine, Blumen. Ich habe sowas aber auch schon als „Kunst“ gesehen. Für unsere Nachbarn ist es Teil ihres Lebens, wie die Micky-Mouse-Ohren, die wir von Eurodisney als Pressegeschenk mitgebracht, irgendwann entsorgt, am Beifahrersitz seines wohl gepflegten uralten Opels wiederentdeckt haben, dem Sitz seiner Frau, der Hanni, der Puppi.

Dass sie so hieß, die kleine, zarte, alte Dame mit dem rosa leuchtenden Mädchengesicht, habe ich erst vorgestern erfahren. Wie eine Puppe, ein süßes Wiener Mädl wirkte sie, nur älter geworden. „Die Gattin“ sagt Herr W., wenn er von ihr spricht. Vorgestern sagte er erstmals Hanni und Puppi und meine Frau. Die Gattin bin auch ich für ihn, wenn er mich grüßen läßt durch meinen Mann. Spricht er mit mir direkt, sagt er „Gnädige Frau“. Frau Katiza nannte er mich vorgestern, der Herr Walter, als wir zu dritt auf seiner Küchenbank in der blitzsauberen Küche geweint haben.

Ich ahnte es, als ich die Rettungswagen vor der Tür sah, aber ich dachte mir, so viele Rettungswagen für so wenig Frau. Erst vor ein paar Tagen hatten wir die Beiden getroffen. Sie war so tapfer, die kleine Frau an seinem Arm, stets lächelnd und doch schmerzensvoll. Wie meine Mutter, nur ärmer, weicher wohl. Sanfter und einfacher. Einfache Leut‘ klingt doch seltsam für diejenigen, die es meist nicht so einfach haben im Leben. 80 wäre sie geworden im Juli, alles war vorbereitet, sagte Herr Walter und blätterte in dem Wochenkalender, in dem das Leben der beiden Nachbarn fest gehalten ist. Krank war sie halt sehr, ein Herzschrittmacher und die Beine. Aber das wäre schon gegangen und er zeigt uns die Einträge: Haxi schön. Kasteln putzen. Die großen Pflichten, die kleinen Tagessiege. Wie bei meiner Mama.

Er ist ein fescher Mann, unser Herr Nachbar, heute wird er 71. Was für ein trauriger Geburstag. Wie ein Hausmeister wacht er über das Haus und die nähere Umgebung. Einmal hat er den jungen Wilden unter uns die Türe eingetreten, das war aber schon vor 12 Jahren und Black Sabbath ist ja wohl nicht jedermanns Sache. Einmal hat er den Vandalen gestellt, der den kirchlichen Schaukasten regelmäßig ruiniert hat. Da ist er vom vierten Stock hinunter gesprintet. Einmal hat er uns die Türe neu gestrichen, einfach so. Als uns ein rosaroter Cadillac zur Hochzeitsreise abgeholt hat, haben sie uns gewinkt, er und seine Frau, von ihrem kleinene Balkon aus. Eine Flasche Wein aus dem Burgenland haben sie uns geschenkt. Wenn ich ein Autofenster offen ließ oder den Hausschlüssel am Postkasterl vergaß, hat er ihn mit herauf genommen und gemahnt. Waren wir im Urlaub, hat er das Reklamematerial vor der Türe entsorgt. Ein seltsamer älterer Herr, der immer tadellos gepflegt mit Aktentasche aus dem Haus geht und am Wochenende sein Auto putzt. Im Sommer fahren sie Podersdorf, er und seine Hanni, sind sie gefahren: "In Podersdorf ist man allein niemand".

Seine Frau haben wir in den letzten Jahren immer seltener gesehen. Der Aufstieg in den vierten Stock war nach der Herzoperation schon sehr mühsam für sie. Manchmal habe ich sie getroffen zwischen den Stockwerken, erschöpft und außer Atem. Da haben wir dann ein Schwätzchen gehalten, ihre schönen blauen Augen haben gefunkelt vor Freude, sie hat mich angestrahlt und ihre kleine Hand war so warm in meiner. „Sie hat Sie geliebt, meine Katiza hat sie immer gesagt“, hat Herr Walter vorgestern erklärt, als wir gegen Mitternacht seine Wohnung verlassen haben.

36 Jahre waren sie zusammen, die Hanni und der Walter. Sie war die dritte wichtige Frau in seinem Leben nach der Trafikantin aus Hernals, die erstickt ist, und Augustine, die an Brustkrebs gestorben ist. Maler und Anstreicher war er, als ihn die Hanni für einen Auftrag engagiert hat, hier im Haus, in ihrer Wohnung und dann haben sie sich wohl verliebt. So alt wie ich war sie damals, er neun Jahre jünger. „Sie hat es nicht immer einfach mit mir gehabt.“ Er entschuldigt sich, dass er die Straßenschuhe anhat, hier in der Küche, das hätte sie gar nicht gerne gesehen. So viel Liebe spüre ich, in dieser Küche, in diesem Schmerz.

Schnitzeln hatte es gegeben zum Mittagessen, sie haben sich noch über die Amsel vor dem Fenster unterhalten, dann sei sie plötzlich von der Bank gekippt. „Walter“ hat sie noch gesagt in seinen Armen. Die Rettung sei so lange nicht gekommen. Er habe auch noch die Polizei gerufen in seiner Verzweiflung. Sie haben ihn aus der Küche geschickt. Dann ist einer gekommen und hat gesagt, dass sie nichts mehr tun können. Im Stock unter uns haben sie gesehen, wie der Sarg vorbei getragen wurde. Der Trafikant, der uns das Beileidbillet verkauft hat, wusste Bescheid, der weiß immer Bescheid. Der Herr W. werde sich wohl ansaufen, vermutete er.

Später, abends, haben wir an die Türe geklopft. Er hat uns dann auch noch die Wohung gezeigt. Erinnerungsstücke zweier Leben, die eines waren in all diesen Jahren. Auf einem Kasten Äpfel, fein säuberlich aufgereiht. In einem Raum hängt Wäsche, ein Nachthemd der Frau rutscht von der Leine. Herr W. befestigt es wieder und ich weiß, dass es noch lange hier hängen wird. Er hätte auch noch eine Waffe, meint er irgendwann und dass es so viel einfacher wäre, sie jetzt zu nutzen. "Ich bin ein Militarist", sagt er. Ich drücke seinen Arm. „Bitte nicht“, sag ich und „das hätte die Frau Hanni nie gewollt“. Dass es ein glücklicher Tod war, betone ich, hier am Mittagstisch in seinen Armen, keine Ärzte, den liebsten Menschen bei sich, keine Qual, keine Schmerzen mehr, aus. Das Weiterleben ist trotzdem schwer, das weiß ich schon. Dass wir auf ihn schauen, versprechen wir ihm und der Hanni.
„12 :14“ steht am Mittwoch, dem 12. Mai 2010 am Kalender „Puppi verstorben“.

wenk1
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2
Mai
2010

Sunday morning

I've got a feeling I don't want to know.




Der Erstgeborene küsst mich auf die Schläfe.
Riecht gut, meint er. Ja, sage ich, meine Tränen riechen nach Veilchen und Rosen und...
Asiatischen Blüten, ergänzt er, in japanischen Gärten unter glitzernden Tropfen und grinst gemein und ich kann lächeln.

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28
Apr
2010

Der König und ich

Mein Kinderzimmer war niemals Kinderzimmer und auch nicht mein. Wenn ich zuhause bin, wo ich zuhause war, schlafe ich nicht mehr dort. Ich schlafe im Elternschlafzimmer, das zuletzt das Schlafzimmer meines Vaters war. Auch nicht seines, auch wenn in den Kästen noch immer seine Hemden hängen und in den Regalen seine Bücher stehen. In zwei Schubladen findet sich Persönliches. Nichts hat sich verändert, seit er nicht mehr ist. Nur wenig Spuren dort, dass er da war.

Auch in meinem Kinderzimmer hat sich kaum etwas geändert, seit ich vor mehr als 20 Jahren weg gezogen bin. In den Regalen stehen meine Kinderbücher, an den Wänden hängen noch immer die alten Poster: Klimt und Toulouse-Lautrec. Puppen sitzen herum, mit denen ich nie gespielt habe. Die altrosa Tagesdecke liegt auf dem schmalen Bett. Ich weiß nicht mehr wirklich, ob ich mir die Poster ausgesucht habe. Die Decke wollte ich nie. Ich mochte rosa nicht. Stets musste sie glatt gestrichen werden, wenn ich aufstand und das Zimmer verließ, fast wie um die Spuren des Lebendigen zu verwischen. Alles in diesem Haus wirkt unbelebt, frei von Spuren.

An einer Wand hängt König Harald. Schon als ich ein kleines Mädchen war, war er in seinem weinroten Rahmen mit der goldenen Krone mein Mitbewohner. Lange wusste ich nicht, wer hier mit stillem Lächeln über mich wachte. Er sah meinem Kinderarzt ähnlich und so vermutete ich eine Zeit lang, es sei dieser auf dem Bild und er stünde dort, um böse Krankheiten und Unbill abzuwehren.

Fremd ist mir das Zimmer, manchmal stehe ich in der Türe und suche die Spuren des kleinen Mädchens, das hier aufgewachsen ist. Ein kleines Schaden in der hölzernen Betturmrahmung zeugt noch von ersten Schreibversuchen, ein winziges Bild vom Tödlein erinnert an eine große Liebe, in einer Schublade finden sich zwei, drei Fotos und ein wenig Krimskrams, dort unter dem Schreibtisch verkroch das kleine Mädchen sich, wenn der Kummer mächtig war und biss sich in den Handrücken bis der körperliche Schmerz den seelischen besiegt hatte. Beim Fenster hinaus rauchte der Teenager Chesterfield. Erinnerungen ja, aber kaum Spuren.

Manchmal erscheint mir nur mehr der fremde König vertraut.

KoenigHarald
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Mock Turtle

Sit down, both of you, and don't speak a word till I've finished

Who sits there?

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Im Bilde

11-12-13-31

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Der Vater - der großartige Walter Deutsch ist am 13....
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Gruß nach drüben
Der Vater - der großartige Walter Deutsch ist am 13....
katiza - 18. Feb, 16:53
Wenn ich schon geahnt...
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katiza - 22. Feb, 15:42
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Lieber Yogi, ein bisschen frivol der Geburtstagsgruß...und...
datja - 5. Jul, 14:19

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